Brahms-Schönberg-Programme liegen spätestens seit Rattles Zyklus von 2009 nahe. Rar ist die Kopplung zweier Variationenwerke, Schönbergs op. 31 und Brahms‘ 56er-Opus. Zusammen mit Beethovens Achter ergibt dies ein Konzert der Kürze und Knappheit.
Für Brahms‘ Haydnvariationen, dessen Thema ziemlich sicher nicht von Haydn stammt, bringen die Philharmoniker Kontrolle und Lyrismus ein, wobei das Gravitationszentrum das Hörner-Vivace sowie das souverän gegebene Grazioso („innig und zart beseeltes Siciliano… Bachisch im Charakter, Brahmsisch im Ton“, schreibt Walter Niemann 1920) scheinen.
Die Berliner Philharmoniker spielen in einem außergewöhnlichen Konzert Schulhoff, Sinigaglia und Zemlinsky und lassen so diesen Komponisten beziehungsreich Gerechtigkeit widerfahren. Deren Rezeptionslinien brachen spätestens in den 40ern ab, so dass von dem Prager Schulhoff bei den Berlinern nun erstmals überhaupt dessen zweite Sinfonie und – teils nach über 100-jähriger Pause – von dem Turiner Sinigaglia zwei kurze Violin-Opera wieder erklingen.
Petrenko dirigiert.
Die Ecksätze der Sinfonie Nr. 2 von Erwin Schulhoff lassen die Berliner Musiker höchsteffizient und sehnig vibrierend vom Podium rollen. Die Binnensätze klingen zu nett. Edel tönen im Scherzo Jazztrompete und Saxofon. Eigentlich klingen auch die Ecksätze zu nett. Kann man das nicht kaltblütig und hitzig aufdrehen?
Ich höre über Deutschlandfunk Kultur.
Echtes Repertoireniemandsland betritt das Publikum mit der Romanze op. 29 von Sinigaglia. Noah Bendix-Balgley ruft das Werk mit auf sanften Orchesterwellen tänzelndem Ton in die Gegenwart. Das klingt lyrisch leicht und macht helle Freude, während die schwelgerische Geigenlinie vom musikalischen Jugendstil kündet. Was da zu Geigern wie den frischgebackenen Berlindebütanten Hadelich oder Chooi fehlt, ist etwa herrisches Solisten-Temperament. Bendix hat Wärme, Phrasierung, fließendes Legato. Einfach wunderschön, dass Bendix-Bagley das an diesem Ort spielt.
Freundliches Virtuosenfutter bietet sodann Sinigaglias Rapsodia piemontese, hier kerniges Folklorethema, dort kontrastierender Mittelteil, in dem scheue Lyrik spricht. Ein Sinigagliakammerstück gab es übrigens unlängst im DSO-Kammerkonzert mit Reinhold Messner. Verzichtet man am Herbert-von-Karajan-Platz in einer der nächsten Saisons auf eine Brucknersinfonie und programmiert stattdessen das Violinkonzert des Turiner Komponisten?
Die Omikronwelle schwappt immer noch über das mehrheitlich geimpfte Berlin hinweg, und die durchgeboosterte Philharmonie ist rappelvoll. Das ist Normalität, die gut tut. Zu viel Normalität lassen die Berliner Philharmoniker aber nicht einkehren. Firmiert als Hauptwerk heute doch Josef Suks schier vergessenes Tongemälde Lebensreife.
Trotzdem ist zweieinhalb Jahre nach Petrenkos Antrittskonzert, nach nicht reibungsloser Neuwahl mitsamt mehrmonatiger Vakanz, im aktuellen Philharmonikerkalender beruhigende Routine eingekehrt. Da rivalisiert Abo-Kernrepertoire – Feuervogel, Schostakowitsch, Brahms – mit unverkennbar Rarem (Sinigaglia, Schulhoff Zweite). Daneben hat man Zeit für deutsche Sonderwege, Hindemith Metamorphosen, Hartmann Violinkonzert.
Heute hört man im Haus am Herbert-von-Karajan-Platz spektakulär raren Suk, kombiniert mit edelster Berliner Repertoireroutine, Brahms‘ B-Dur-Konzert.
Jetzt macht Petrenko auch einen Mini-Zyklus Brahms. Diese Woche erklingt der Publikumsrenner D-Dur-Sinfonie und nächste Woche das mächtige B-Dur-Konzert (mit Schiff). Das ist erstmal gediegenes Philharmoniker-Business, as usual halt und ziemlich erwartbar. Interessanter ist, was neben Brahms passiert. Da stehen ein Hauptwerk eines spezifisch deutschen Expressionismus, Zimmermanns Photoptosis, und die burschickose Nachkriegs-Erste des Polen Lutosławski auf dem Zettel (oder dem Download-Programm).
Unter einem sichtlich genesenen, vital beweglichen Petrenko (Silvester-Hexenschuss, ade) legen die Philharmoniker das kalt lodernde Photoptosis hin. Ich höre abwechselnd gläsern lauernde Farbschichtenstatik (die Farben kommen aus dem Giftschrank) und dramatisch durchleuchtete Durchbrüche. Petrenko sucht nicht die expressive Zermalmung. Über dem Musikgetümmel schwebt bei Petrenko die makellose Struktur. Zimmermann dürfte es freuen.
Erster Januar, Neujahrsvormittagskonzert. Ich folge auf Ö1, und, weil in Katerstimmung, nur der zweiten Hälfte. In der Zweidrittel-besetzten Goldschachtel des Musikvereinssaals präsentieren die Wiener Philharmoniker ihren altbekannten „Exportschlager auf dem TV-Weltmarkt“ (Wiener Zeitung).
Haben Barenboim und die Musiker geheime Botschaften im Programm versteckt? In der ersten Konzerthälfte wahrscheinlich schon. Denn aus Phönix-Marsch und Phönix-Schwingen-Walzer lässt sich ein beschwingtes, 4/4- respektive 3/4-Takt-geprägtes Aus-der-Asche-Emporsteigen heraushören, nämlich aus der Virus-Malaise.
Die kurzfristige Absage Petrenkos (die Intendantin: „Hexenschuss“) ruft in Berlin Grübeleien aller Arten hervor. Was ist mit Petrenko? Gibt es Stress? Wie ist das Verhältnis zum Orchester? Lahav Shani springt – äußerst kurzfristig – ein. Der ist jung, aber mit seinen 32 Jahren schon ausreichend erfahren.
Los geht es mit der Fledermausouvertüre. Die klingt nicht spritzig-frivol (wie an der Komischen Oper), sondern gediegen symphonisch. Und in einem höheren, wienerischen Sinne durchaus harmlos.
Ich habe so etwas wie Toscanini-Tempo erwartet. Doch Petrenkos Tempo bei den Berliner Philharmonikern ist alles andere als rasant. Nächste Überraschung. Petrenko wiederholt die Exposition (bin immer so dankbar, wenn das jemand macht). Sofort verwandelt sich die Musik in etwas Gedämpftes, Geheimnisvolles, fließen die Geigen (was sie zuvor bestimmt auch schon getan haben, aber jetzt höre ich es). Die hinreißend dramatischen Forte-Stellen hebt Kirill Petrenko nicht übermäßig heraus, keine Spur von Knalligkeit wie weiland beim Solti. Sondern fließen über vor lauter einzeln hörbaren Binnenstimmen. Die Reprise beginnt spektakulär unspektakulär: zögerndes Zaudern. Haarsträubend gut ist das, Takt für Takt. Und die Sturmepisode der Coda schallt, als wäre Mendelssohn nicht in Schottland, sondern in Dresden im Fliegenden Holländer gewesen. Im Scherzo blitzt eine Wärme, eine entfesselte Klangintelligenz auf.
Geht jetzt alles ganz schnell? In München hörte man die Walküre live vor Drittel-Publikum mit Davidsen und Kaufmann. Weitermachen will man am Max-Joseph-Platz mit Lehár und Reimann. Die Deutsche Oper Berlin plant ihre Rückkehr am 13. Juni mit einem Don Carlo im Kurzdurchlauf – inklusive Mezzo-Röhre Anita Rachwelischwili. Was vor zwei Wochen noch wie ausgemachter Opern-Irrsinn schien, wirkt heute dank überall sinkender Kurven auf einmal sehr realistisch.
Bis es soweit ist, füllen die Orchester flexibel wie Einsatztrupps des THW die Live-Lücken mit Streams und Radiokonzerten. Und das Konzerthausorchester erreicht mit Currywurst und Harfe auf twitch ziemlich locker knapp eine Viertelmillion Aufrufe.
Drögere Musikwochen waren nie als jene sechs seit dem Jahreswechsel. RSB und die Opern schweigen Corona-beredet. Das DSO produziert immerhin einen Konzertfilm mit 20 Minuten Musik. Neben den Philharmonikern (2 x) bringen nur Ultraschall Berlin und im Boulezsaal die Schubert-Woche Abwechslung. Fern von Berlin ist die Zurückhaltung weniger streng. Barenboim tritt in Salzburg auf, im Duo und dirigierenderweise. Ticciati dirigiert am 5. 2. in München, Eschenbach am 4. 2. in Frankfurt. Und die Solo-Oboistin der Staatskapelle, Cristina Gómez Godoy, fährt nach Hamburg, um dort ein kleines, feines Programm zu geben. Wo bist du, Berlin? Doch am zweiten Februarwochenende feuern die Berliner Orchester wie gewohnt aus allen Rohren. RSB, DSO, Philharmoniker, dazu Staatsopernpremiere – (fast) alle sind dabei.
Mittwoch, 20. 1. 2021, Konzerthaus. Ivan Fischer wird 70. Das Konzerthausorchester gratuliert mit der Aufführung von Fischers Komposition Eine deutsch-jiddische Kantate auf jiddische und deutsche Texte. Anna Prohaska singt bestechend klar und verhangen, so wie nur sie das kann. Peter Dörpinghaus trompetet mit akkuratestem Gefühl. Das Geburtstagskind dirigiert vorzüglich.
Dienstag, 26. 1. 2021, BKA-Theater. Unerhörte Musik sendet wieder, heute mit dem Ensemble lovemusic aus Winnie Huang (Geige), Lola Malique (Cello), Emiliano Gavito (Flöte), Adam Starkie (Klarinette). Man beginnt mit US-Minimalismus von Pauline Oliveros (Sonic Meditation 1 Teach Yourself to Fly, 1974, interessanter gruppentherapeutischer Einschlag), geht zu Carola Bauckholt und den locker delikaten Luftwurzeln von 1993 über und landet bei der Kolumbianerin Violeta Cruz, die in New Piece fast ein Konzert für Aufdrehfiguren schafft. Der Ton ist eigen, die Textur licht und angemessen surrealistisch (Uraufführung). Auch Cove von David Bird ist eine Uraufführung. Das Werk gibt sich einem unaufhörlichen Fließen hin, und was so entsteht, kann als intimes Palaver zwischen entspannten, hochkonzentrierten Musikern beschrieben werden. Schlussendlich von Sivan Cohen Elias das dicht komponierte Air Pressure (2010), ein Stück voller Kontrastspannungen und rabiater Virtuosität, in dem sich die Töne wie von selbst vermehren.
Freitag, 29. 1. 2021, Philharmonie. Die frisch getesteten Berliner Philharmoniker spielen Thorvaldsdóttir (Neues), Prokofjew (Konzert), Suk (Tondichtung) – in der Philharmonie konzertiert man wieder abendfüllend. Das neue Werk von Anna Thorvaldsdóttir heißt Catamorphosis. Es zielt auf vom Strom der Zeiten glattpolierte Klangräume, auf geheimnisvolle Unisono-Glissandi, also auf das große Ganze. Die handwerklich wie klanglich beeindruckende Komposition passt ins Zeitalter der digital perfektionierten Landschaftsaufnahmen und Arktiskreuzfahrten in 1.-Klasse-Kabine.
Prokofjews hübsches Klavierkonzert Nr. 1 klingt heuer heiter. Trifonow triumphiert. Eine flüssigere Technik gibt es nicht. Es klingt heiter, flüssig und unvorstellbar vollkommen. Bis weit ins Scherzo hinein wird fast akzentlos gespielt – Trifonow, der Profkofjew-Klassizist. Der Ton klingt – zumindest in digitale Bits verpackt und mit 16.000er Leitung – wie auf Diät, superschlank, aber Leidenschaft fehlt. Das Des-Dur-Thema turnt Daniil Trifonow hinauf, als hätte er Ballettschlappen an. Der Russe packt seine stählerne Kraft in Strickhandschuhe. Das Opus 10 von 1911 klingt aufgeräumt, nicht aufgezäumt. Keine Spur von brillantem Futurismus, von überschäumender Argerich-Kompliziertheit, von Richter-Wucht. Man höre Abbado und den umwerfenden Kissin. Und hat selbst Trifonow nicht schon mit Gergiew mehr klirrenden Bizeps, mehr Chuzpe gezeigt? Folgt also das Andante. Trifonow hängt über den Tasten wie eine entkörperlichte Lemure.
Alles easy? Von wegen, der Klassikbetrieb ist voll im Corona-Modus. Und meist ist verschoben doch aufgehoben, gecancelled, abgesagt. Business as unusual eben. Man ist froh über das Wenige, das hinter geschlossenen Konzerthaustüren gespielt wird.
Zum Beispiel über das Deutsche Symphonie-Orchester. Das packt die Gelegenheit beim Schopf und macht da weiter, wo es 2020 aufgehört hat: beim Konzertfilm. Dieses Mal filmt das DSO samt Chefdirigent RobertTicciati aus dem Club Sisyphos an der Rummelsburger Bucht. Man sieht, wie das Orchester sich zwischen Warmspielen und Großgruppentherapie unter Anleitung von Ondřej Adámek auf das, was kommt, vorbereitet. Bei 3:20 fließen Zuschauer und Zuhörer langsam zu Dusty Rusty Hush von Adámek über, das mit seinen frühindustriell verdüsterten Pulsationen durchaus als Hommage an die coole Club-Kulisse taugt.
Das Virus legt die Axt auch an die reiche Silvesterkonzert-Kultur. In Berlin erklingt keine Beethoven-Neunte, weder von Staatskapelle noch von RSB. Das DSO spielt nicht sein traditionsreiches Zirkus-Konzert und in Deutscher und Komischer Oper schweigt die Operette. Immerhin streamen die Berliner Symphoniker unter dem verheißungsvollen Titel Feuer der Leidenschaft mitten am Silvesternachmittag prickelnde Kost von Strauß, Delibes, Offenbach, Bizet und Paul Lincke. Bernhard Steiner dirigiert, und Anna Werle singt mit echt halbseidener Stimme Ah! Que j’aime aus der Großherzogin von Gerolstein und das Schwipslied aus der Nacht in Venedig. Und Paul Lincke (Berliner Luft) ist doch der alleinige und einzige Berliner Johann Strauß.
Anna Werle: Irgendwas prickelt und kitzelt im Blute
Wenig später bitten die Berliner Philharmoniker in der Digital Concert Hall zum wie immer Party-tauglich früh terminierten Silvesterkonzert, Punkt 18 Uhr. Die gute Tradition themenbezogener Silvesterabende führt ja auch Kirill Petrenko fort. Letztes Jahr mit einem US-amerikanischen Mix aus Gershwin und Weill, 2020 segeln die Philharmoniker unter spanisch-lateinamerikanischer Flagge. Für das erste Stück reicht sogar der vage Bezug Sevilla, wo bekanntlich Beethovens Oper Fidelio bzw. Leonore spielt. Von den insgesamt vier von Beethoven komponierten Ouvertüren erklingt die ein ernstes Jahr ernst verabschiedende Leonoren-Ouvertüre Nr. 3.
Zu Saisonbeginn gab es die Neunte von Beethoven. Jetzt traut sich Petrenko an die Sechste von Mahler. Auf Utopie und Jubel folgt nun also Schicksal und Menschenweh. Und man kann sagen: Nach einem hochinteressanten Abend in der Philharmonie ist Kirill Petrenko wieder ein Stückchen mehr in Berlin angekommen.
Denn noch läuft die Phase gegenseitigen Beschnupperns. Was macht er? Wie ist er? Wer ist er? Den neuen Chef gibt es ja bislang nur häppchenweise – der Russe und Wahlösterreicher dirigiert gern und oft an der Bayerischen Staatsoper, und das bis 2021. Schwankte das Suk-Beethoven-Programm vor zwei Wochen noch zwischen apart und Routine, so ist die Sinfonie Nr. 6, die es jetzt in der Philharmonie zu hören gibt, jedenfalls alles andere als ein Häppchen. Und Petrenkos Zugriff gehört ganz Petrenko. Das ist gut. Wenn auch noch längst nicht alles rund läuft.
Denn das Maß an (preußisch?) blankgeschliffenem Drill ist enorm. Vorbei sind die schönen Mahler-Tage, da Rattle den Berlinern eine Art sinnlicher (Wahl-)Freiheit ließ.
Petrenko mit einem interessanten Abend in der Philharmonie Berlin. Für sein Berliner Konzert mischt der Chef in spe sperrigen Schönberg mit triumphierendem Tschaikowsky.