Österreich in den 1860ern: Der Maler Waldmüller lebt bis 1865, der Schriftsteller Stifter bis 1868, der Dramatiker Grillparzer gar bis 1872. Sissi und Franz Joseph urlauben in Ischgl. Und in der Nach-Schumann-Ära der 1860er schreiben Robert Volkmann, Joachim Raff, Max Bruch, Saint-Saëns, Dvořák und der Oberösterreicher Anton Bruckner Sinfonien. Bruckner komponiert in diesem Jahrzehnt deren drei, die „Studiensinfonie“ f-Moll, die 1. Sinfonie c-Moll, die „annullierte“ Sinfonie in d-Moll.
Jetzt spielen die Berliner Philharmoniker unter Thielemann f-Moll- und d-Moll-Sinfonie.
Bei Thielemann klingt die Sinfonie f-Moll von 1863 episodisch kleinteilig und antimonumental, pittoresk gelockert beim lyrischen Thema. Bei Überleitungspassagen demonstriert Christian Thielemann einen Bruckner aus Haydns Händen.
Christian Thielemann mit der Sinfonie Nr. 5 von Anton Bruckner, die er dieses Jahr auch schon mit dem BRSO machte.
Es ist ein fulminantes Konzert der Staatskapelle Berlin. Aber eines mit Bedenken. Wenn auch mit zweitrangigen.
Christian Thielemann favorisiert eine abgerundete Attacke. Die Fanfaren der Introduktion klingen wie mit Gerhard Richter’scher Unschärfe abgesoftet. Das Losschlagen der dritten Themen geschieht wie mit dem Bedacht des Baumeisters vor der Integrität der Architektur – wobei Thema 3, Kopfsatz, so schlawinerhaft schön ansetzt wie sonst keines bei Bruckner.
Das Konzert war stellenweise langweilig, was zu einem großen Teil an Wagner und zu einem geringeren an Pfitzner lag.
Die Palestrinavorspiele, komponiert um 1915, Premiere 1917, hört man in Berlin erstaunlich oft, schon Nelsons und Janowski ließen sich von den kargen Linien und dem ausgesparten Klang faszinieren. Eben das macht den Ruhm dieser Musik aus, unweigerlich öffnet sich die ferne Zeit des Weltkriegs. Schön, im dornenreichen Vorspiel Nr. 3 huldigen die Philharmoniker in fabulöser Weise Pfitzners schwermütiger Entsagung, aber will man nicht dessen Ouvertüren (Käthchen, Christ-Elflein) oder seine Konzerte aufführen? Das klanglich wenig binnendifferenzierte und doch fabelhaft von innen bewegte Vorspiel 2 zeigt, wie Christian Thielemann eben nicht den analysierenden Spaltklang etwa eines François-Xavier Roth favorisiert.
Nicht die Entbehrungen, sondern die Wonnen der Resignation sind Thema der Parsifalvorspiele. Man soll sowas lieber in der Oper hören. Thielemanns Sinn fürs Auf- und Verblühen der Linien ist trotzdem sagenhaft, ebenso für Temporückungen (die werden durchaus nicht feinsinnig gestaltet, sondern im Gegenteil kraftvoll), ebenso für die Klangmischungen von Streichern und Blech. Nachgerade zauberhaft nehmen die Streicher das Glaubensmotiv zurück, während dasselbe Motiv kurz zuvor, in voller Bläserpracht des 19. Jahrhunderts intoniert, das klingelnde Handy des 21. nicht zudecken kann.
Siegfried hat nicht ganz die Höhe wie Die Walküre. Das liegt an – Thielemann und Kampe. Und an Tscherniakow.
Am zweiten Tag des Bühnenfestspiels, da der Märchenstoff des jungen Siegfried den Göttermythos um Wotan verdrängt, bevorzugt Dmitri Tscherniakow das ruhelose Kreiseln der Drehbühne. Das horizontale und vertikale Ausgreifen der rätselhaften Raumfolgen des ESCHE-Forschungsinstituts tritt (vorerst) in den Hintergrund. Der einsame Alberich schlurft nun ruhelos um Neidhöhle, stößt Tür um Tür auf, bis er auf den gehassten Bruder und seinen alten Widersacher Wotan trifft. Aber was will Tscherniakow eigentlich sagen? War Rheingold die kühne Intrada, war Walküre die virtuose Weitung, ist Siegfried die Verwässerung.
Was hauptsächlich für die Konzeption gilt. In den einzelnen Szenen wird noch leidenschaftlich genau inszeniert. Und gespielt.
Dass ziemlich Gute beim Jung-Siegfried von Andreas Schager (Trainingsanzug, Schlabbershirt) ist, dass er die gedankenlose Garstigkeit dieser kulturlosesten aller Wagnerfiguren umbiegt in etwas, das wirklich nach Aufbruch aussieht. Und Tcherniakov hilft dabei. Er tilgt den Märchenton, der Regie und Tenöre traditionellerweise zu Peinlichkeiten reizt. Weil Schager bestechend singt – spontan, leicht, fest, umwerfend locker in der Aussprache, nie nur Deklamation, immer ein bissl Legato – ist dieser Siegfried imponierend. Schager deutet Wagners Heroentum burschikos in eine Art höheres Anti-Heldentum um. Gegen Schagers Frische wirken alle anderen heutigen Heldentenöre behäbig.
Der Mime von Stephan Rügamer (die Brille à la Max Frisch, die Hose mit Hosenträgern bis über den Bauchnabel gezogen) wird fabelhaft gespielt und listig kichernd gesungen. Dem Wanderer nimmt die Regie meines Erachtens viel, wenn sie Michael Volle als pensionierten Instituts-Chef in ausgebeulter XXL-Sommerjacke nur noch altersmatt durch die ESCHE-Flure streichen lässt (heute hätte ich von Volle auch mehr Gesang gewünscht, und weniger Deklamation). Den Fafner mimt Peter Rose (heute passt sein leicht überreifter Bass) in Zwangsjacke, verwahrlost, asozial, und doch ein gefährlicher Hüne, vor dem Siegfried sich im Zweikampf vorsehen muss. Macht Spaß. Den Drachenkampf habe ich nie packender gesehen.
Der Tag der Einheit gibt sich Unter den Linden frühherbstlich mild, fast spätsommerlich warm. Vor und neben dem rosa Knobelsdorff-Quader finden kleine Demonstrationen statt.
Drinnen geht Die Walküre ihren Gang. Das Institut ESCHE von Göttervater Wotan bleibt der bestimmende Bezugspunkt. Neu ist die vollkommen durchsichtig gläserne Wohnung – durchsichtig auch den Blicken der beobachtenden Forscher -, in der die Wälsungentragödie ihren Lauf nimmt. Siegmund (im Übergrößen-Parka) ist ein schmuddeliger Häftling auf der Flucht mit leicht autistischen Tendenzen, Sieglinde (gelbe Strickweste) wechselt nicht weniger autistisch von dumpf verzweifelt zu jäh impulsiv. Hunding mimt einen hünenhaften Polizisten, der Siegmund mit vorgehaltener Pistole in Schach hält. Kopflos, chaotisch, ohne einen Hauch von Sex flieht das Paar.
Lässt sich nach Rheingold, diesem leicht instrumentierten, Parlando-schönen Vorabend schon Genaueres über Tscherniakows Neuinszenierung des Ring des Nibelungen sagen? Ja und Nein. Offenbar platziert Dmitri Tscherniakow Wagners Tetralogie in einem Forschungsinstitut namens ESCHE. Oben herrschen die Götter als gerissene wissenschaftlich-technische Elite, im Keller schuften die Nibelungen, die gerne auch zu trüben Menschenversuchen herangezogen werden.
Dinge gibts, die gibts nicht. Thielemann ersetzt Blomstedt beim Konzert der Staatskapelle. Thielemanns kurzsichtige und tölpelhafte Ablösung bei der Dresdner Staatskapelle ist bekannt. Bekannt war auch, dass eine Beziehung zwischen Berliner Staatskapelle und Thielemann nicht existierte. Das ist von heute an anders.
Das Konzert ist sehr gut. Das Programm umfasst Bruckners Sinfonie Nr. 7 und Tristanvorspiel und Liebestod.
Ich höre den Staatskapellenklang mit seinen warmen, dunklen Streichern. Aber da sind Thielemann-Nuancen: üppiges, aber auch frei bewegliches Blech, mit Präsenz, aber auch Akkuratesse singende Holzbläser, ein machtvoll geballtes, aber auch vollmundig strahlendes Tutti. Anstelle von Barenboims strömendem Espressivo tritt bei Christian Thielemann die feinfühlige Finesse einer aufs Äußerste kultivierten Phrasierung.
Der Kritiker des Standard aus Wien schrieb jüngst anlässlich des Bruckner-Gastspiels der Dresdner Staatskapelle: „Die blockhafte Bauweise… wurde abgeschliffen, abgerundet zugunsten eines organischen Flusses.“ So in etwa ist es auch heute.
Unbemerkt kommt die Reprise zwischen all den „falschen“ Reprisen. Beim 22-taktigen Bandwurmthema des Adagio gefährden die markanten Einzelgesten nicht den großen Bogen. Die Ausklangphase des zweiten Themas lässt Thielemann streng ausmusizieren. Temporückungen sind indirekte Ausdrucksmittel und solche der Gliederung. Das passt wunderbar.
Erster Januar, Neujahrsvormittagskonzert. Ich folge auf Ö1, und, weil in Katerstimmung, nur der zweiten Hälfte. In der Zweidrittel-besetzten Goldschachtel des Musikvereinssaals präsentieren die Wiener Philharmoniker ihren altbekannten „Exportschlager auf dem TV-Weltmarkt“ (Wiener Zeitung).
Haben Barenboim und die Musiker geheime Botschaften im Programm versteckt? In der ersten Konzerthälfte wahrscheinlich schon. Denn aus Phönix-Marsch und Phönix-Schwingen-Walzer lässt sich ein beschwingtes, 4/4- respektive 3/4-Takt-geprägtes Aus-der-Asche-Emporsteigen heraushören, nämlich aus der Virus-Malaise.
In der Pandemie läuft so ziemlich alles anders. Die Zeit, das Leben sowieso, die Musik. Gerade auch für Musiker und Orchester. Wer kann, spielt, sendet, streamt. Die anderen schweigen. Und mancherorts schnurrt der Betrieb weiter – mit Publikum. Am Teatro Real in Madrid läuft Norma, das Moskauer Bolschoi zeigt Salome. Wir sind weit weg von jeder Normalität. Da ist man für jedes Lebenszeichen von den Berliner Konzertpodien dankbar.
Die Wiener Philharmoniker mit dem Neujahrskonzert aus dem Großen Musikvereinssaal. Heuer dirigiert Christian Thielemann, der musikalische Chef von Semperoper und Bayreuther Festspielen.
Ein gebürtiger Berliner schwingt am Neujahrstag in Wien das Taktstöckerl. Kann das gut gehen?
Wie immer bietet das Neujahrskonzert eine bunte Mischung aus Bekanntem und weniger Bekanntem, aus Polka (schnell und langsam), Marsch, Ouvertüre und Konzertwalzer, den Paradedisziplinen gehobener Wiener Unterhaltungsmusik.
Drei Jahre nach der letzten Vorstellung von Hans Neuenfels‘ Ratten-Lohengrin öffnet sich in Bayreuth der Vorhang für einen neuen Lohengrin. Der junge US-Regisseur Yuval Sharon inszeniert. Für knisternde Spannung sorgten im Vorfeld jedoch andere Namen. So war der Leipziger-Schule-Maler Neo Rauch als Bühnenbilder angekündigt, und dass nun nach Roberto Alagnas schnöder Absage Piotr Beczała, einer der führenden Interpreten im italienischen Repertoire und trotz umjubelten Dresden-Debüts als Lohengrin noch Wagner-Novize, die Titelpartie singt, hat die Erwartungen weiter gesteigert. Bei Neuenfels‘ ätzend scharfer Deutung dirigierte Andris Nelsons, es sangen Jonas Kaufmann und Annette Dasch. Wenn heuer das Team aus Thielemann, Beczała und Anja Harteros besteht, so steht zu vermuten, dass an Stelle des geschärften Ausdrucks der Jahre 2010 bis 2015 in 2018 seidenweicher Legato-Schönklang tritt.
Genau so kam es auch – jedenfalls fast.
Ich höre BR Klassik.
Wenn Regie-Jungspund Yuval Sharon jetzt eine halb mythische, halb extraterrestrische Gesellschaft von Brabantern auf die Bühne stellt, zusammengewürfelt aus Comic, Science-Fiction und Rembrandtkostümen (Antwerpen! Schelde!!), so zielt der US-Amerikaner mit israelischen Wurzeln in eine andere Richtung. Bei Sharon trägt man Puffärmel, weiße Kragen, Sportstreifen am Ärmel, ergeht sich in
Dank BR-Klassik ist man auch in Berlin der oberfränkischen Provinz nah.
Stephen Gould hat man inzwischen so oft gehört, dass man verwundert ist, Neues zu entdecken. Zuerst einmal das Offenkundige: Goulds Diktion ist nicht sehr prägnant, die Klangfarbe eine Mischung aus Helle und Männlichkeit. Es gibt – nicht live, sondern am Radio, wo das Ohr detailversessener hört und das große Ganze aus dem Blick verliert – keine Stelle, die mich auf die Knie zwingt. Das todessehnsüchtige Wohin nun Tristan scheidet gelingt faszinierend.
Buchbinder spielt das Klavierkonzert Nr. 1 von Beethoven.
Rudolf Buchbinder trifft den ersten Satz sehr gut, den zweiten Satz hervorragend, und das Finale immer noch gut. Aber doch nicht so gut wie Allegro oder Largo.
Der neue Nelsons ist gefunden. Bayreuth kann durchatmen. Der Dirigent der Bayreuther Neuproduktion des Parsifal heißt Hartmut Haenchen. Das teilen die Bayreuther Festspiele in einer Presseerklärung mit. Der aus Dresden stammende Haenchen, Jahrgang 1943, gilt als erfahrener Wagnerdirigent. Er leitete Wagneropern u.a. an der Pariser Opéra de Bastille, an der Nationale Opera, Amsterdam, am Teatro Real, Madrid, an der Opéra de Lyon sowie am Royal Opera House of London. In Bayreuth wird er mit Parsifal nun sein Dirigierdebüt geben.
Für die Premiere war ursprünglich Andris Nelsons vorgesehen. Nelsons hatte Ende Juni um die Aufhebung des Vertrages für dieses Jahr gebeten. Gerüchten zufolge ist es zu Unstimmigkeiten zwischen Nelsons und dem Musikdirektor der Bayreuther Festspiele, Christian Thielemann, gekommen.