Zu Saisonbeginn gab es die Neunte von Beethoven. Jetzt traut sich Petrenko an die Sechste von Mahler. Auf Utopie und Jubel folgt nun also Schicksal und Menschenweh. Und man kann sagen: Nach einem hochinteressanten Abend in der Philharmonie ist Kirill Petrenko wieder ein Stückchen mehr in Berlin angekommen.

Denn noch läuft die Phase gegenseitigen Beschnupperns. Was macht er? Wie ist er? Wer ist er? Den neuen Chef gibt es ja bislang nur häppchenweise – der Russe und Wahlösterreicher dirigiert gern und oft an der Bayerischen Staatsoper, und das bis 2021. Schwankte das Suk-Beethoven-Programm vor zwei Wochen noch zwischen apart und Routine, so ist die Sinfonie Nr. 6, die es jetzt in der Philharmonie zu hören gibt, jedenfalls alles andere als ein Häppchen. Und Petrenkos Zugriff gehört ganz Petrenko. Das ist gut. Wenn auch noch längst nicht alles rund läuft. 

Denn das Maß an (preußisch?) blankgeschliffenem Drill ist enorm. Vorbei sind die schönen Mahler-Tage, da Rattle den Berlinern eine Art sinnlicher (Wahl-)Freiheit ließ.

So abgezirkelt hört man das Andante moderato selten. So klar. Und so zart angefasst – als bekäme Petrenko eine Panikattacke, wenn zu viel Alma ins Spiel kommt. Ein abstraktes Ballett zarter, weltschmerzgetönter Seelen. Dabei lässt Petrenko den Satz sich wunderbar schlank verströmen. So tönt hochherzige Leidenschaftsverweigerung. So würde Hilary Hahn klingen, würde sie dirigieren.

Ja, da ist etwas Neues.

Der von Petrenko präferierte Klang ist vor allem eines: klar. Er verschmäht jedes Sfumato. Er sucht sein Mahler-Heil in der blendend hellen Überdeutlichkeit von Strukturen und Texturen. Die hochkomplexen Mahlersätze klingen wie eine Art musikalisches Google Maps inklusive lückenloser 360°-Beweglichkeit und überkorrekter Detailkontrolle.

Die Virtuosität, die die Berliner Philharmoniker dabei walten lassen, ist mitreißend. Fast kann man sie theatralisch nennen. Das gleißende Tutti ist von ungezügelter Effizienz, tönt aber auch herrlich nach tausendundeins Farben ausdifferenziert. Nirgendwo wird dies deutlicher als im Finale, das mit seinen vier extensiven, den symphonischen Verlauf immer wieder aufhebenden Introduktionen (sie nehmen genau ein Drittel des Satzes ein) einer der erstaunlichsten Symphoniesätze überhaupt sein dürfte. Hervorragend aber ist das Tempo, das Petrenko reinbringt – er ist viel schneller als Abbado, von dessen Mahler-Auffassung Petrenko Lichtjahre entfernt ist, schneller als Rattle, aber deutlich langsamer als Karajan. Wunderschön fließen die vier Posaunen plus Tuba am Schluss (im sogenannten Aequale).

Und doch klingen – Achtung, Kritik! – gerade diese essentiellen Introduktionen dünn, episodenhaft und letztlich unerfüllt. Auch die zahlreichen Nach- und Abgesänge (Coda des Finales, aber wiederholt auch im 1. Satz) trudeln heute Abend beängstigend lieblos aus.

Den ersten Satz (Allegro energico, man non troppo) finde ich streckenweise ungenießbar. Die Partitur fliegt, baut brillanten Überdruck auf. Das ist gut. Das Choralthema, in einer liaison dangereuse mit dem Almathema verbunden, verflüssigen die Holzbläser zu einem netten Liadl. Auch das ist mal was anderes. In der Durchführung aber schallt es wahlweise übermotiviert oder extrovertiert selbstgefällig (Wiederkehr des Themas! Und das Becken haut drei Mal drauf). Das schallt zwar fabelhaft überdreht, wirkt aber auch ziemlich hektisch inszeniert.

Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko Mahler Sinfonie Philharmonier

Petrenkos Interpretation schwankt zwischen fieberhafter Detailtreue und akribischer Überinszenierung. Was freilich tausend Mal interessanter ist als stinknormaler come-sempre-Mahler.

Kirill Petrenko – agil, kompakt, drahtig, Depressiver Derwisch und manischer Kontroletti in einem – zieht jene Version vor, die auch Rattle die liebere war: die mit dem Andante an zweiter Stelle und ohne den dritten Hammerschlag 40 Takte vor Schluss. Allerdings wirkt meiner Meinung nach die Uraufführungsfassung meist interessanter, da sie das Scherzo enger mit Satz 1, das Andante enger mit Satz 4 zusammenbindet. Aber das mag nur eine persönliche Spitzfindigkeit sein.


Weitere Besprechungen und Kritiken: Hundert11 (Diese Apokalypse braucht keine Hammer-Optik), Uehling (Da jagt etwas zum Ende), Goldberg (An Mahler muss Petrenko noch wachsen).