Geht jetzt alles ganz schnell? In München hörte man die Walküre live vor Drittel-Publikum mit Davidsen und Kaufmann. Weitermachen will man am Max-Joseph-Platz mit Lehár und Reimann. Die Deutsche Oper Berlin plant ihre Rückkehr am 13. Juni mit einem Don Carlo im Kurzdurchlauf – inklusive Mezzo-Röhre Anita Rachwelischwili. Was vor zwei Wochen noch wie ausgemachter Opern-Irrsinn schien, wirkt heute dank überall sinkender Kurven auf einmal sehr realistisch.
Bis es soweit ist, füllen die Orchester flexibel wie Einsatztrupps des THW die Live-Lücken mit Streams und Radiokonzerten. Und das Konzerthausorchester erreicht mit Currywurst und Harfe auf twitch ziemlich locker knapp eine Viertelmillion Aufrufe.
Irgendwie fühlt sich die ganze Streaming-Chose an, als hätte es sie so schon immer gegeben. Lang, lang ist es her, da man Schulter an Schulter in Block G saß und Pandemie ein Wort aus der älteren Geschichte war. Andererseits, ertappt man sich nicht dabei, klammheimlich ganz froh zu sein, nicht im pickepackevollen Konzertsaal zu sitzen? Schwer zu sagen.
Bei den Philharmonikern goutiert man weiterhin Riesenwerke. Am Kopfhörer steige ich bei Bruckners 9. (mit Mehta, immerhin einem der aufregendsten Brucknerdirigenten) beim 2. Thema aus. Die Neunte ist mir zur Zeit zu viel Andacht, zu viel Jenseits. Auch Messiaens pathetisches Toten-Epos Et exspecto resurrectionem mortuorum – keine Minute reingehört – fungiert da als astreiner Stimmungskiller. Aber da mag jeder Hörer anders ticken.
Neues gibt es beim RSB. Da startet am Sonntag eine Aufführungsserie, sechsteilig, Strawinsky gewidmet, vollständig gesendet via Radiokonzert. внимание, Achtung!, hier spricht Strawinsky, und der spricht die Sprache der Reduktion. Zumindest im ersten Konzert. Selten bis Nie-Gehörtes des übergroßen Russen erklingt, gleich zu Beginn die Acht instrumentalen Miniaturen für fünfzehn Spieler (1963), bei denen ich das Gefühl habe, ich höre Musik aus dem Reinraum, so ostentativ antiromantisch tönt das. Und, o Wunder, gerade dadurch rührt sie. In die gleiche Kategorie hüftschmal proportionierter Meisterwerke gehört der quirlige Pas de deux: Blauvogel aus Tschaikowskys Dornröschen. Das ist großartig indirekte Musik von karger Buntheit. Teilweise ein Upcycling-Projekt von Film-Ideen für Hollywood stellt die bezaubernde Ode (1943) dar, bei der das RSB exemplarisch zeigt, wie sich distanzierter Spätstil unmittelbar in Gefühl transformieren lässt.
Bitter, aber wahr: Corona macht’s möglich, nämlich derart aufregende Programme.
Dann ist der allerbeste Teil des Abends aber auch schon vorbei. Orpheus (1947) ist Ballettmusik in der Art des Apollon. Die klingt ähnlich dunstfrei, aber nicht so phantastisch konzentriert wie die zuvor gehörten Stücke. Das Puritanisch-Säuerliche, das Antiken-Werken der Neoklassizisten gerne mal anhaftet, hört man auch bei Orpheus. Abschließend Juri Faliks Elegische Musik, deren Hauptreiz die vier imposanten Posaunen ausmachen. Schade, dass der Rest nicht mehr bietet als x-beliebigen, Streicher-umwobenen Trauerflor à la Schostakowitsch. Gespielt wird live aus dem Großen Sendesaal des Rundfunkhauses.
Es ist erstaunlich, wie weit an diesem Abend in der Staatsoper die Erinnerungen zurückreichen. Als die heute 78-jährige Martha Argerich ihre erste Platte aufnimmt, 1960, hatte für Horowitz der zweite Teil seiner öffentlichen Karriere noch gar nicht begonnen, Weiterlesen →
Der Wiener André Heller inszeniert in Berlin Der Rosenkavalier des Bayern Richard Strauss. Schön und prachtvoll schaut’s aus in der Staatsoper Unter den Linden.
Überraschung. Zubin Mehta und nicht Barenboim steht am Pult, wenn es Unter den Linden in Falstaff um Ehre und Diebe, um Wänste und Liebe geht. Mehta lässt Verdis Lebensendwerk in entspannter Spannung leuchten, fügt rhythmische Lockerheit hinzu, lässt Tutti-Biss und sinnliche Schönheit einfließen – und bleibt gemach im Tempo. Es ist ein sehr ausgewogenes, Brio und cantabilità geschmeidig vereinendes Dirigat. Mehta muss sich nichts mehr beweisen. Der Applaus vor und nach dem dritten Akt ist groß.
Die Staatskapelle spielt in der Philharmonie. Zubin Mehta dirigiert. Barenboim hat Geburtstag. Dass der liebe Gott diese drei Dinge hier und heute Abend zusammenführt, beweist, dass Musik im Himmel doch noch was zählt.
Hauptwerk ist Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 op. 73. Barenboim ist ab heute 75. Technisch wahrhaft stupendes Spiel oder virtuos hochgesteigerte Brillanz erwarten, hieße Unmögliches fordern. Auch Edwin Fischer und Wilhelm Backhaus leisteten sich in vorgerücktem Alter Verspieler. Ich liefere eine Mängelliste. Die improvisatorische Eingangsgeste gelingt kaum restlos scharf. Die Eingangstakte der Solo-Exposition schleppen seltsam. Akzente forciert Barenboim bis hart an die Grenze des Vertretbaren (vor dem zweiten Thema). Linke und Rechte auseinanderzuhalten ist bei vollgriffigen Passagen nicht ohne Weiteres möglich.
Auch die Wiener Philharmoniker kommen zum Feiern nach Berlin. Zwar geht das Wiener Weltklasse-Orchester (Arte-Moderatorin Annette Gerlach würde von „einem der weltbesten Weltklasse-Orchester“ sprechen) in die Staatsoper und nicht ins Berghain. Aber schließlich sind die Wiener alles andere als gemeines Touri-Fußvolk. Nein, in die altehrwürdig-neu eröffnete Staatsoper zieht es die Musiker. Im Gepäck haben sie Musik der Wahlwiener Haydn & Brahms und des Transleithaners Bartók.
Womöglich am verblüffendsten läuft’s bei der bisweilen unterschätzten Tragischen Ouvertüre von Brahms. Die Wiener Philharmoniker sind ja beides, Wahlwiener und Schon-immer-Wiener, und ihr Brahms gelingt deshalb so einfach,
Was ist die Frau ohne Schatten nicht alles? Die Fruchtbarkeitsfestoper schlechthin. Saure Eheüberhöhungsoper. Hehres Paartherapieweihfestspiel.
Ja, die Frau ohne Schatten (Uraufführung 1919) ist von allegorischem Humbug überladen, die Handlung zäh wie kalter Honig.
Und doch liegt falsch, wer diese oft geschmähte, selten geliebte Opernzumutung nicht liebt. Vom Duo Strauss-Hofmannsthal selbst stets als Haupt- und Lieblingswerk angesehen, steht dieser Eheglücksmumpitz doch mit beiden Beinen fest in der europäischen Operntradition (Zauberflöte!) – und zuallererst auch in Strauss‘ eigener: in der „Frosch“ rumoren Rosenkavalier und Elektra, Alpensymphonie und Till Eulenspiegel.
Neue Saison, neues Glück. Ist es die letzte Saison im Schillertheater? Weiß man das? Weiß der Senator für Stadtentwicklung das?
Die Premieren bringen u.a. einen neuen Fidelio von Harry Kupfer, Barenboim dirigiert. Evelyn Herlitzius singt Elektra (Regie: Patrice Chéreau, Leitung: Barenboim). Die Neuproduktion der Festtage 2017 heißt Die Frau ohne Schatten, die Leitung hat Zubin Mehta (Solisten: Botha, Nylund, Koch, Theorin). Die weiteren Premieren: Berlioz‘ Damnation de Faust mit Simon Rattle, Bizets Perlenfischer, inszeniert von Wim Wenders, es singt u.a. Olga Peretyatko, sowie Wolfgang Rihms Oper Jakob Lenz. Jürgen Flimm inszeniert zudem Puccinis Manon Lescaut – ohne Anna Netrebko, dafür mit Anna Nechaeva und Riccardo Massi.
Ein ungewöhnlich reichhaltiges und gelungenes Konzert.
Der Abend dient als Gedenkkonzert für Claudio Abbado.
Das Adagietto (Mahler, 5.) dirigiert Zubin Mehta als Anti-Abbado, also denkbar unphilosophisch, aber wunderbar feinfühlig – der Begriff „plüschig“ verbietet sich bei diesem Anlass – und nobel. Der Satz hat mehr Charme als Sentiment, was nicht das Schlechteste ist, was ihm passieren kann. Den Septdezim-Glissando-Absturz spielen die ersten Geigen der Wiener Philharmoniker mit einem höheren Maß an Mahler-Besoffenheit – will sagen: raffinierter, beiläufiger, hypnotischer. Die letzten Forzati knurren die Kontrabässe unnachahmlich als grimmigen Abschiedsgruß Abbado hinterher.
George Crumbs Ancient Voices ist ein umfangreicher Zyklus. Die Besetzung ist klein. Die Musiker des philharmonischen Orchesters sind in Nano-Anteilen zugegen – pas de Streicher, pas de Blech, seulement Spezialinstrumente – fast.
Noch einige Worte über den Berliner Bruckner-Frühling. 3 x Berliner Philharmoniker, 3 x Bruckner. Simon Rattle dirigierte die Neunte, Christian Thielemann die Vierte, Zubin Metha die Achte. Wer macht den coolsten, befriedigendsten, ähhh… deutschesten, räusper, mit einem Wort, den besten Brucker? Weiterlesen →