Erster Januar, Neujahrsvormittagskonzert. Ich folge auf Ö1, und, weil in Katerstimmung, nur der zweiten Hälfte. In der Zweidrittel-besetzten Goldschachtel des Musikvereinssaals präsentieren die Wiener Philharmoniker ihren altbekannten „Exportschlager auf dem TV-Weltmarkt“ (Wiener Zeitung).
Haben Barenboim und die Musiker geheime Botschaften im Programm versteckt? In der ersten Konzerthälfte wahrscheinlich schon. Denn aus Phönix-Marsch und Phönix-Schwingen-Walzer lässt sich ein beschwingtes, 4/4- respektive 3/4-Takt-geprägtes Aus-der-Asche-Emporsteigen heraushören, nämlich aus der Virus-Malaise.
Das Virus legt die Axt auch an die reiche Silvesterkonzert-Kultur. In Berlin erklingt keine Beethoven-Neunte, weder von Staatskapelle noch von RSB. Das DSO spielt nicht sein traditionsreiches Zirkus-Konzert und in Deutscher und Komischer Oper schweigt die Operette. Immerhin streamen die Berliner Symphoniker unter dem verheißungsvollen Titel Feuer der Leidenschaft mitten am Silvesternachmittag prickelnde Kost von Strauß, Delibes, Offenbach, Bizet und Paul Lincke. Bernhard Steiner dirigiert, und Anna Werle singt mit echt halbseidener Stimme Ah! Que j’aime aus der Großherzogin von Gerolstein und das Schwipslied aus der Nacht in Venedig. Und Paul Lincke (Berliner Luft) ist doch der alleinige und einzige Berliner Johann Strauß.
Anna Werle: Irgendwas prickelt und kitzelt im Blute
Wenig später bitten die Berliner Philharmoniker in der Digital Concert Hall zum wie immer Party-tauglich früh terminierten Silvesterkonzert, Punkt 18 Uhr. Die gute Tradition themenbezogener Silvesterabende führt ja auch Kirill Petrenko fort. Letztes Jahr mit einem US-amerikanischen Mix aus Gershwin und Weill, 2020 segeln die Philharmoniker unter spanisch-lateinamerikanischer Flagge. Für das erste Stück reicht sogar der vage Bezug Sevilla, wo bekanntlich Beethovens Oper Fidelio bzw. Leonore spielt. Von den insgesamt vier von Beethoven komponierten Ouvertüren erklingt die ein ernstes Jahr ernst verabschiedende Leonoren-Ouvertüre Nr. 3.