Ich habe so etwas wie Toscanini-Tempo erwartet. Doch Petrenkos Tempo bei den Berliner Philharmonikern ist alles andere als rasant. Nächste Überraschung. Petrenko wiederholt die Exposition (bin immer so dankbar, wenn das jemand macht). Sofort verwandelt sich die Musik in etwas Gedämpftes, Geheimnisvolles, fließen die Geigen (was sie zuvor bestimmt auch schon getan haben, aber jetzt höre ich es). Die hinreißend dramatischen Forte-Stellen hebt Kirill Petrenko nicht übermäßig heraus, keine Spur von Knalligkeit wie weiland beim Solti. Sondern fließen über vor lauter einzeln hörbaren Binnenstimmen. Die Reprise beginnt spektakulär unspektakulär: zögerndes Zaudern. Haarsträubend gut ist das, Takt für Takt. Und die Sturmepisode der Coda schallt, als wäre Mendelssohn nicht in Schottland, sondern in Dresden im Fliegenden Holländer gewesen. Im Scherzo blitzt eine Wärme, eine entfesselte Klangintelligenz auf.

Ich höre Digital Concert Hall. Der Reclamführer (Ausgabe Neunziger) leistet sich einige kapitale Dummheiten bezüglich der Sinfonik Mendelssohns. „Es ist gewissermaßen ein ‚Stil des geringsten Widerstandes‘. Er bewegt sich ungekünstelt im Rahmen dessen, was man erwartet… tragische Akzente darf man in der Musik dieses Glücklichen, von Kämpfen Verschonten nicht suchen.“ Wie herablassend, wie makaber, wie falsch.

Tiergarten ohne Petrenko

Das Adagio is a Draum, wie man in Tirol sagen würde, unbeschreiblich, wie das dritte Horn das Thema übernmimmt und das Orchester es versteht, verrückte Detailgenauigkeit und melodisches Singen unter einen Hut zu kriegen. Grandezza des Understatements. Irre. Das zweite Thema im Adagio (marschartig à la Beethovens 5., Schumann hat zur gleichen Zeit an konträren Themen in langsamen Sätzen kein Interesse mehr, wie letztens bei der Staatskapelle gehört) besaß bei ich sag mal Klemperer gewiss mehr Aplomb. Das Orchester ist gut, wie schon lange nicht mehr gehört. Zum Bauklötze Staunen die blinzelnden Wechsel der Klangkonstellation. Lyrische Vehemenz, an der irgendwie alles richtig ist.

Rattle konnte mit Mendelssohn ja wenig anfangen, das Violinkonzert als bequemes Solistenvehikel ausgenommen.

Mozart mit Víkingur Ólafsson

Ich muss gestehen, dass mir die Sinfonik Schostakowitschs seit einiger Zeit weniger sagt, am ehesten gehen noch die Nr. 4 und 15. Von der Sinfonie Nr. 10 des Komponisten spare ich mir die 23 Minuten Adagio und das Allegretto. Die beiden Allegros klingen weniger involviert, aber präziser als bei Rattle. Bei Rattle mehr Hexenküche, bei Petrenko mehr Reinraumlabor.

24 Stunden später nimmt das DSO auf denselben Stühlen Platz. Ich höre über Kulturradio. Norrington sagte ab. Elim Chan, 35, Honkongchinesin, springt ein, und krempelt um. Jetzt gibt es ein kurzes Stück der Londonerin Anna Clyne, Mozarts A-Dur-Konzert und tatsächlich erneut die 10. von Schostakowitsch. Von Anna Clyne also This Midnight Hour, das sich von Tschaikowsky und Baudelaire inspiriert weiß. Das DSO übertrifft sich in diesem Herbst selbst darin, dem Publikum horrible Neuigkeiten vorzustellen. Vor zwei Wochen das Klavierkonzert von Rodolphe Bruneau-Boulmier, nun Anna Clynes „Mitternachtsstunde“. Zäh, langatmig, unnötig. Gramophone fand es scheinbar gut. Dann KV 488 (Klarinetten ja, keine Trompeten, keine Pauke), gespielt von Víkingur Ólafsson, 37, dem Pianisten mit der Brille und dem Seitenscheitel, der aussieht, als schriebe er gerade den Roman des 21. Jahrhunderts (Tja, Herr Selge, Pech gehabt, tut mir echt leid für Sie).

Ólafsson bietet reizvollen Mozart. Einen Mozart des unbeirrten Vorwärtsspielens, der reinlichen Skalen, der purifizierten Klangfantasie. Im perfekt abgetönten Adagio komme ich mir vor wie in einem Bad, vollgekachelt mit der Bodenfliese Great Metals Steel Sleek von Schöner Wohnen. Überraschungen: Pustekuchen. Besser das Finale, wo der Isländer zeigt, dass er Witz kann. Ólafsson gibt ein Satz aus Bachs Violinsonate f-Moll zu, bearbeitet für Klavier vom Pianisten. Es klingt nachdenklich, sensibel, edel-öde. Elim Chan langweilt im 1. Satz und drängt im Finale. Nach der Pause noch in Schostakowitsch reingehört. Was wäre ein Wochenende in Berlin mit nur einer Zehnten von Schostakowitsch? Elim Chan kann doch mehr als zweitklassigen Mozart. Ich höre wie bei Petrenko nur die beiden Allegros. Die aber haben richtig Feuer unterm Hintern.

Davon abgesehen hat das DSO das beste Saisonprogramm Berlins. Saunders‘ Violinkonzert, Berlioz‘ Béatrice, Saint-Saëns‘ erstes Cellokonzert, Dukas‘ Zauberlehrling, Mozarts Oboenkonzert, Mozarts erste Sinfonie. Dagegen hat das RSB trotz Firssowa, Smirnow-Uraufführung und Rubinsteins Cellokonzert wenig Chancen. Aber aufgepasst, die Philharmoniker haben noch Sinigaglia und Roberto Gerhard im Köcher. Es bleibt spannend.