Das Virus legt die Axt auch an die reiche Silvesterkonzert-Kultur. In Berlin erklingt keine Beethoven-Neunte, weder von Staatskapelle noch von RSB. Das DSO spielt nicht sein traditionsreiches Zirkus-Konzert und in Deutscher und Komischer Oper schweigt die Operette. Immerhin streamen die Berliner Symphoniker unter dem verheißungsvollen Titel Feuer der Leidenschaft mitten am Silvesternachmittag prickelnde Kost von Strauß, Delibes, Offenbach, Bizet und Paul Lincke. Bernhard Steiner dirigiert, und Anna Werle singt mit echt halbseidener Stimme Ah! Que j’aime aus der Großherzogin von Gerolstein und das Schwipslied aus der Nacht in Venedig. Und Paul Lincke (Berliner Luft) ist doch der alleinige und einzige Berliner Johann Strauß.

Anna Werle: Irgendwas prickelt und kitzelt im Blute

Wenig später bitten die Berliner Philharmoniker in der Digital Concert Hall zum wie immer Party-tauglich früh terminierten Silvesterkonzert, Punkt 18 Uhr. Die gute Tradition themenbezogener Silvesterabende führt ja auch Kirill Petrenko fort. Letztes Jahr mit einem US-amerikanischen Mix aus Gershwin und Weill, 2020 segeln die Philharmoniker unter spanisch-lateinamerikanischer Flagge. Für das erste Stück reicht sogar der vage Bezug Sevilla, wo bekanntlich Beethovens Oper Fidelio bzw. Leonore spielt. Von den insgesamt vier von Beethoven komponierten Ouvertüren erklingt die ein ernstes Jahr ernst verabschiedende Leonoren-Ouvertüre Nr. 3.

Berliner Philharmoniker: unter spanischer Flagge

Dann beginnt der recht unterhaltsame, spanisch inspirierte Melodienreigen. Zwei wirkungsvolle Stücke aus Manuel de Fallas El amor brujo machen den Anfang. Sodann folgt Joaquín Rodrigos flottes Concierto de Aranjuez von 1940, das der spanische Gitarrist Pablo Sáinz-Villegas mit vornehm gezügelter Eleganz hinlegt und das Petrenko supergenau in die leere Philharmonie zirkelt. Es ist auch Sáinz-Villegas, der anschließend die Spanische Romanze eines Anonymus mit durchnuanciertem Vibrato veredelt. Von Villa-Lobos dann die wirkungsvollen Bachianas Brasileiras Nr. 4 (1941) und von Rimsky-Korsakow das eher unbekannte, chamäleonhaft farbchangierende Capriccio espagnol mit dem schönem quasi guitara der Streicher im canto gitano. Das Adiós kommt heute von Schostakowitschs frech versierter Filmmusik-Suite Die Hornisse.

Eine ungewöhnlich ruhige Silvesternacht später sendet der ORF aus dem Großen Musikvereinssaal das Wiener Neujahrskonzert. Natürlich auch ohne Publikum. Die Wiener Philharmoniker geben sich pünktlich um 11 Uhr 15 die Ehre. Es leitet – zum sechsten Mal – Riccardo Muti.

Los gehts mit Franz von Suppés handfestem Fatinitza-Marsch. Von Johann Strauß (Sohn) sodann der Walzer Schallwellen, den Eduard Hanslick 1854 herb kritisierte (falsches Pathos, klägliche Akkordfolge), der behäbig-sinfonisch und mit hübschen Oboen-Figuren verziert anhebt – einfach bezaubernd. Weiter geht es mit der russisch überzuckerten Niko-Polka. Und von Johanns Bruder Josef stammt die Schnell-Polka Ohne Sorgen!, ein geradezu idealer Titel für ein Neujahrskonzert. Carl Zellers Grubenlichter-Walzer von 1894 beweist, dass auch im Wien der 1890er Verismo-Tendenzen goutiert wurden, die zugehörige Bergwerks-Operette hieß übrigens Der Obersteiger. Von Carl Millöcker, dem Komponisten des Bettelstudenten, auch er ein Wiener, ertönt der Galopp In Saus und Braus.

Die Wiener Philharmoniker: Walzer, Galopp, Schnell-Polka, Marsch, Quadrille, alles dabei

Der zweite Teil des 1.-Jänner-Konzerts beginnt mit Suppés noch von Weber’scher Brillanz und Donizetti’schem Ouvertüren-Brio gezeichneter Ouvertüre zu Dichter und Bauer (1846). Gut fürs Gemüt ist das Duo aus Cello und Harfe auf jeden Fall.

Neujahrskonzert: volkstümliche Allüre und Tanz-Bravour

Für uns Nicht-Österreicher, die wir den Kaiserwalzer ständig mit Der schönen blauen Donau verwechseln, hält das Neujahrskonzert auch dieses Jahr wieder interessante Österreichiana bereit.

Karel Komzák etwa war langjähriger Leiter der Badener Kurkapelle und komponierte 1898 den Walzer Bad’ner Mad’ln, worin sich allerhand nostalgischer Belle-Époque-Esprit ausspricht. Kurz darauf starb Komzák bei einem Eisenbahnunfall auf der Wiener Südbahn.

Nun folgen zwei kurze musikalische Grüße in Richtung Italien: Margherita-Polka von Josef Strauss und Venetianer-Galopp mit obligatorischem Kastagnetten-Geklingel von Johann Strauß (Vater). Dann ist man wieder bei Johann Strauß (Sohn). Die schlawinerhafte Geschmeidigkeit seiner Kompositionen, ihre melodische Finesse, ihre geschliffen volkstümliche Allüre machen noch jedes seiner (stilisierten) Tanzstücke zum Musik-Zuckerl. Das gilt auch für den Frühlingsstimmen-Walzer, und auch die Wienerwald-Hommage, die ursprünglich jedoch in Russland komponierte Polka française Im Krapfenwald’l huldigt einer eleganten Tanz-Bravour. Da verstummt jede Kritik. Wieder italienisch inspiriert anschließend dann das allerdings etwas öde Verdi-Potpourri Neue Melodien. So was klingt von Liszt paraphrasiert dann doch interessanter.

Nun also der von feiner Nostalgie geprägte, durch das Orchester mit lebendigem Nuancenreichtum interpretierte Kaiserwalzer, womit das Neujahrskonzert auf die Zielgerade einbiegt und das Tempo merklich anzieht. Es folgen die so spielfreudige wie kurze Schnell-Polka Stürmisch in Lieb und Tanz, die Furioso-Polka sowie An der schönen blauen Donau, alle von Strauß-Sohn Johann. Muti dirigiert hier, aber besonders im Donauwalzer, mit rhythmischer Delikatesse und unnachahmlicher, sozusagen traditionsgesättigter Kultiviertheit. Den Beschluss macht der Radetzky-Marsch, dem Riccardo Muti zivilisiertere Zügel anlegt als Andris Nelsons letztes Jahr oder Maris Jansons 2012. Damit ist das Jahr 2021 zumindest wienerisch-philharmonisch eingeläutet.

Foto: Neujahrskonzert 2021 Wien / Silvesterkonzert 2020 Berliner Symphoniker

Das Konzert aus Wien ist nachzuhören auf ORF1 hier (Teil 1) und hier (Teil 2).

Weitere Kritik Neujahrskonzert/Silvester: Schöne Tage von Aranjuez (Ulrich Amling, Berlin), Mit viel Gefühl (Eva-Maria Nagel, Wien)