Geht jetzt alles ganz schnell? In München hörte man die Walküre live vor Drittel-Publikum mit Davidsen und Kaufmann. Weitermachen will man am Max-Joseph-Platz mit Lehár und Reimann. Die Deutsche Oper Berlin plant ihre Rückkehr am 13. Juni mit einem Don Carlo im Kurzdurchlauf – inklusive Mezzo-Röhre Anita Rachwelischwili. Was vor zwei Wochen noch wie ausgemachter Opern-Irrsinn schien, wirkt heute dank überall sinkender Kurven auf einmal sehr realistisch.

Bis es soweit ist, füllen die Orchester flexibel wie Einsatztrupps des THW die Live-Lücken mit Streams und Radiokonzerten. Und das Konzerthausorchester erreicht mit Currywurst und Harfe auf twitch ziemlich locker knapp eine Viertelmillion Aufrufe.

Das Berliner Maierlei beginnt mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Jakub Hrůša führt das RSB auf frühlingsneues Hör-Terrain. Zu Beginn das Frühwerk Adagio für Orchester des Ost-Mähren Leoš Janáček, ein dunkel fließendes d-Moll-Klangbild mit leidenschaftlich erregtem Mittelteil. Melancholische Posaunen beschließen. Zu zwei selten gehörten Violin-Juwelen steuert Frank Peter Zimmermann den Solopart bei. Zuerst in Béla Bartóks konzentriert folkloristischer Rhapsodie Nr. 1, dann in der ingeniös bunten Suite concertante (1944) von Martinů. Zimmermann spielt beneidenswert. Hält er Bartóks zweisätzige Rhapsodie mit aller gebotenen nüchternen Grandeur auf Linie, lädt Zimmermann anschließend Martinůs viersätzige, aber herrlich knapp dimensionierte Konzertsuite mit sachlicher Gestik und verschmitzter Kraft auf. Zimmermanns Ton ist so klar, wie es eigentlich nur sein immenses Können gestattet, der Ausdruck so intensiv, wie die Musik es erlaubt. Die Slowakische Suite von Vítězslav Novák (1903) fällt in die Kategorie gediegene Tondichtung. Die Sätze heißen In der Kirche, Unter Kindern, Beim Tanz, Die Verliebten, In der Nacht. Ich hören ein Genre-Werk ohne anekdotische Zuspitzung. Hrůša sorgt für Freude am hellen Klang.

Das Konzert wurde fünf Tage vorher aufgezeichnet. Hinter der Ersten Gastdirigentin Karina Canellakis, die wieder einmal absagte, vergrößern sich die Fragezeichen. Im Herbst sagte sie ab und dirigierte stattdessen lieber das Münchner BRSO. Nun sagt sie ab und dirigiert lieber – am selben Tag – die Stockholmer Philharmoniker. Handelt es sich wirklich nur um ein Corona-bedingtes Einreiseproblem? Im Mai ist Canellakis bei Wiener Symphonikern und Niederländischem RSO. Will sie nicht? Der immerhin 85-jährige Mehta schafft es auch, am vereinbarten Termin in Berlin zu sein.

Erster Mai einmal anders bei den Berliner Philharmonikern. Virus sei Dank, fällt schon zum zweiten Mal die 1.-Mai-Reise des Philharmoniker-Trosses flach. In Zeiten des Klimawandels wirkt ein eineinhalbstündiges Vor-Ort-Konzert – abends hin, nachmittags zurück – ja irgendwie unzeitgemäß. Stattdessen musiziert man Raum-erobernd im Scharoun-Foyer. Eigentlich aufregend, und es beginnt mit der herrlichen Fanfare zur Eröffnung der Philharmonie von Boris Blacher. Die ist nicht so bekannt wie Richard Strauss‘ Wiener-Philharmoniker-Fanfare. Dafür tönt sie doppelt so leise und nur halb so blechgepanzert. Für Frust sorgt die eifrige Moderatorin Petra Gute. Gute führt im berüchtigten Annette-Gerlach-Stil (bekannt aus ARTE) durch das Konzert – und erdrückt stille Musik wie die Blachers durch Übermoderation. Nach der zweiten Pause – die Intendantin spricht, der Bundestagspräsident spricht – steht fest, dass ich keinem Philharmonikerkonzert lausche, sondern ARD-Vormittagsfernsehen. Beim lustigen Notturno für vier Orchester (KV 286) halte ich noch durch – der Mozart von Kirill Petrenko klingt wendig und klangverhangen und macht Lust auf mehr. Aber noch vor den kühl flirrenden Emanationen von Krzysztof Penderecki hat Petra Gute ihr Ziel erreicht. Ich steige aus.

Macht nichts. Denn gerade treten sich die großartigen Programme in den Berliner Konzerthäusern sozusagen gegenseitig auf die Füße.

Bleiben wir beim 1. Mai. Die Geigerin Isabelle Faust ist in Berlin und spielt beim DSO unter Giovanni Antonini das 3. Violinkonzert von Mozart. Und, erstaunlich, es gibt noch Wunder. Bei ihrer strengen, bisweilen trockenen Aufnahme mit Antoninis Giardino Armonico dominierte noch die hochherrschaftlich-historisch informierte Attitüde. Jetzt erlaubt Faust sich die Andeutung eines Vibrato, schmuggelt subtile Farbwerte ein, verzaubert mit kleinen Portamenti, mit versteckten Legato-Aktionen – mithin also mit Subjektivität. Fausts exzentrische, hochinteressante Kadenzen (Satz 1 und 2) sind ungewöhnlich lang. Hinreißend detailliert und fabelhaft Musik-nah rauscht Faust durch dieses 216er-Köchelwerk. Schade, dass Antonini einen Mozart von der Alte-Musik-Stange liefert. Im Kopfsatz verteilt Antonini altklug G-Dur-Kopfnüsse. Im Adagio verordnet er den Streichern anämische Vibratolosigkeit. Folgt die Sinfonie Nr. 82 („Bär“) von Haydn mit ihren prachtvollen Überleitungen von nie nachlassender Spannung und ihrem modulatorischen Vorwärtsdrang in der Durchführung. Vielleicht ist es bezeichnend, dass sich Antoninis explosive Schneidigkeit in der Wiederholung der Exposition schon etwas abnutzt, um dann in der Reprise fast rechthaberisch zu wirken. Sehr rasch genommen wird der zweite Satz. Da hält es Antonini mit Ticciati, Augen zu und durch. Immer ein Vergnügen sind die Menuette Haydns mit ihren hunderttausend Schattierungen von behäbiger Festlichkeit und den Mischungen ländlicher und höfischer Inspiration.

Das Geburtstagskonzert der Staatskapelle für Zubin Mehta mit dem 4. Beethovenkonzert (Barenboim) und Schubert höre ich mir vielleicht später an. Die poetische Klassizität von op. 58 sprach mich in dem Moment überhaupt nicht an.

Alles andere als maimüde ist man bei Wladimir Jurowski und den Wiederholungstätern vom RSB. Sie führen wieder einmal Erstaunliches im Schilde und bringen Jean-Férry Rebel und seine feurige Barock-Suite Caractères de la danse mit den Drei deutschen Tänzen KV 605 aus dem Mozart-Todesjahr 1791 zusammen. Und stellen Strawinsky und seine quirligen Danses concertantes (1942) Richard Strauss und dessen überhellsichtig verspieltem Bürger als Edelmann von 1919 gegenüber, Menuett und Courante inklusive. Der Konzerttitel Tanz in den Mai erhält so seine Berechtigung. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielt genau so, wie es soll. Es ist einer dieser von durchtriebener Programmierlust geprägten Abende, auf die Jurowski ein Anrecht zu haben scheint. Ein Konzert, das man in einem Rutsch runterschlürft. Слышите!

Kaum weniger spannend ist das, was das Deutsche Symphonie-Orchester drei Tage später unter Jung-Dirigent Joseph Bastian anstellt. Auch hier wird vor den Radiomikrofonen aufgenommen und zeitversetzt gesendet (Deutschlandfunk Kultur). Zwar stellt zuerst Organist Cameron Carpenter sein kurzes Stück Great Expectations (Uraufführung) vor. Das schmilzt beim Hören rascher zusammen als ein Nogger in der Sonne. Entschieden wunderlicher gestaltet sich die Symphonie Nr. 3 von 1957 des Tschechen Miloslav Kabeláč. Für Orgel, Blechbläser und Pauken komponiert und dementsprechend knapp bemessen, was Ausdruck, aber auch was äußere Dimension angeht, ist die Sinfonie doch erfüllt von einem Lapidarstil, der mich durch kantige Kargheit einnimmt, ja, im Sturm erobert und jedenfalls vielfältigste Hör-Spuren hinterlässt. Kabeláč merke ich mir. Daneben wirkt die zehn Jahre früher entstandene Sinfonietta von Francis Poulenc natürlich unverschämt leichtgewichtig, doch eben auf die Poulenc-typisch farbenhell-hochintelligente Art. Dementsprechend geschmeidig schmeichelt das DSO es in die Mikrofone. Abschluss des erstaunlichen Radiokonzerts aber ist die in einer Art kauzigem Spätestkatholizimsus geschriebene Fuga solemnis (1939) für 16 Bläser, Orgel und Pauken des Österreichers Franz Schmidt. Ein Werk ohne Tamtam. Nachzuhören hier.