Die Omikronwelle schwappt immer noch über das mehrheitlich geimpfte Berlin hinweg, und die durchgeboosterte Philharmonie ist rappelvoll. Das ist Normalität, die gut tut. Zu viel Normalität lassen die Berliner Philharmoniker aber nicht einkehren. Firmiert als Hauptwerk heute doch Josef Suks schier vergessenes Tongemälde Lebensreife.

Trotzdem ist zweieinhalb Jahre nach Petrenkos Antrittskonzert, nach nicht reibungsloser Neuwahl mitsamt mehrmonatiger Vakanz, im aktuellen Philharmonikerkalender beruhigende Routine eingekehrt. Da rivalisiert Abo-Kernrepertoire – Feuervogel, Schostakowitsch, Brahms – mit unverkennbar Rarem (Sinigaglia, Schulhoff Zweite). Daneben hat man Zeit für deutsche Sonderwege, Hindemith Metamorphosen, Hartmann Violinkonzert.

Heute hört man im Haus am Herbert-von-Karajan-Platz spektakulär raren Suk, kombiniert mit edelster Berliner Repertoireroutine, Brahms‘ B-Dur-Konzert.

Der Beginn von Opus 83 enttäuscht wie stets: Die echte Brahmsisch-deutsche Romantik ist wie ein Gespenst, das man nie sieht und nie hört. Auch heute stellt sie sich beim weich gerundeten Gold der B-Hörner nicht ein. Anders als Ulrich Amling denke ich, dass Petrenko und Schiff eine Interpretation spielen. Petrenko drosselt das Tempo, feilt an der Besetzung. Nur vier Bässe spielen. Entsprechend fein und streicherbiegsam reagiert das Orchester auf den Solisten. Das klingt, als hielte Petrenko nichts von Hanslicks Verdikt einer „Symphonie mit obligatem Klavier“.

Brahms, Finale, Exposition, Rückkehr zu Thema 2 / Foto: Livestream Digital Concert Hall

Schiff gönnt sich Artikulationsfreiheiten. Wagt hinreißende Aussparungskühnheit. Petrenko antwortet mit subtiler Artikulation der Streicher. In der Durchführung freilich deutet Schiff den dringenden und drängenden Sonatengeist doch allzu leichtfertig in verspielte Bonhomie um. Um in der Coda aber gleich wieder mit genialer Lockerheit zu verzaubern – während Petrenkos Linke stützend das Podestgeländer sucht. Ist die Sache mit dem Hexenschuss doch nicht vorbei?

Rauer wird der Ton in Satz zwei. Dessen hochfahrenden Elan („worin eine fast verwegene Bravour sich kampflustig tummelt“, Hanslick 1881) nutzt Schiff zu generösen Tempomodifkationen. Er spielt hellwach und wunderbar wissend, beiläufig. Nur Wucht besitzt Schiffs Zugriff nicht. Und so lässt er, was er nicht kann. Verzichtet auf grellscharfe Trifonow-Akzente oder düster zupackende Bronfman-Ausbrüche. Dafür tänzeln seine Hände geradezu blitzend ungarobeschwingt durchs Finale.

Ich höre Digital Concert Hall.

Solopassage Takt 220 im Finale / Foto: Livestream Digital Concert Hall/berliner-philharmoniker.de

Das Andante ist eine der Inkunablen deutschen Gefühlsbiedermeiers („gewisse und ausgesprochene bürgerliche Philistrosität“, so Walter Niemann 1920). Die Klarinette zitiert aus BrahmsTodessehnen, op. 86. Solocellist Bruno Delepelaire serviert im Vor- und Nachklang pikanten Baritonschmelz. Aber es bliebt doch ein (nochmal Niemann) „bis zur leisen… Hausbackenheit gehender bürgerlicher Ton“.

Selten habe ich das Finale so klar gehört.

Man vergisst bei dieser viersätzigen, ein Unzahl von Themen zu einer schwerfälligen Großform bündelnden Hyperarchitektur ja gerne, dass die Bläser nur zweifach besetzt sind, die Posaunen fehlen und, die vier Hörner ausgenommen, ziemlich genau das Orchester von Beethovens 1. Sinfonie spielt.

Ich muss die enttäuschen, die wegen Josef Suks sicherlich ehrenwerter Lebensreife (Zrání) hier sind. Aber im Jahr 1917 vollendete, achtsätzige Tondichtungen mit Frauenchor gehen über meine Kräfte.


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