Erster Januar, Neujahrsvormittagskonzert. Ich folge auf Ö1, und, weil in Katerstimmung, nur der zweiten Hälfte. In der Zweidrittel-besetzten Goldschachtel des Musikvereinssaals präsentieren die Wiener Philharmoniker ihren altbekannten „Exportschlager auf dem TV-Weltmarkt“ (Wiener Zeitung).

Haben Barenboim und die Musiker geheime Botschaften im Programm versteckt? In der ersten Konzerthälfte wahrscheinlich schon. Denn aus Phönix-Marsch und Phönix-Schwingen-Walzer lässt sich ein beschwingtes, 4/4- respektive 3/4-Takt-geprägtes Aus-der-Asche-Emporsteigen heraushören, nämlich aus der Virus-Malaise.

Die Fledermausouvertüre klingt anders als bei den Berlinern 16 Stunden zuvor nicht über Gebühr sinfonisch angedickt. Mit der Champagnerpolka signalisiert das Orchester, dass Feiern auch in diesen Zeiten erlaubt ist. Auch wenn die Johann-Strauß-Polka zwar unter charmantem Holzbläsergezwitscher abspult, dies aber eher unspektakulär tut. Ungewohnte Weitläufigkeit herrscht beim Walzer Nachtschwärmer von Zierer. Der dauert zehn Minuten. Perfekt aber die Mischung aus Sentiment und Genre-Ton (wie beim Maler Waldmüller). Zierer diente seit 1907 als k.k. Hofballmusikdirektor. Die Philharmoniker als personifizierte Nachtschwärmer singen: Freunderl, was denkst du denn, woll’n wir nach Hause geh’n, oder wir bleib’n noch hier, bist du dafür? Folgen zwei orientalisch eingefärbte Werke, einmal der Persische Marsch (1864), dessen Trio mit original persischer Melodie aufwartet, worauf Johann Strauß Sohn offenbar sehr stolz war, und sodann der spritzig-kultivierte Walzer Tausend und eine Nacht von 1871.

Johann Strauss mit Doppel-s

Es stimmt schon, was Brug in seiner Kritik zu Barenboim sagt, dass er unidiomatisch dirigiere. Barenboims Zugang ist wie der von Thielemann 2019 sinfonisch und geschmackssicher, aber eben nicht tänzerisch. Doch nicht so dröhnend wie der von Nelsons. Dennoch. Strauß-Werke kann ich mir sehr gut hin und wieder bei den Berliner Philharmonikern vorstellen. Unter Thielemann war es unlängst das Künstlerleben. Herr Petrenko?

Edi Strauß‘ graziöser Gruß nach Prag ist leichtfüßige Polka-Routine, während sich die Heinzelmännchen von Hellmesberger Sohn immerhin durch deskriptiven Humor auszeichnen. Hellmesberger dirigierte selbst oft die Philharmoniker. Einer der drei Strauß-Brüder hieß Josef, und der schuf 1885 die Nymphen-Polka, eine nicht allzu rasche Polka française. Das Thema Nymphe ist hier gewiss nicht nur unter antiker Perspektive zu verstehen.

Im Übrigen ist die Schreibweise Strauß oder Strauss ziemlich unklar. Im Wien des 19. Jahrhunderts bevorzugte man wohl Strauss. Auch heute schreibt man (wie die Wiener Philharmoniker auch vor einigen Jahren im Programm) in Österreich bisweilen Strauss. Die Strauß-Familie selbst schrieb sich „Strauſs“, wie u.a. Johanns Unterschrift zeigt.

Johann Strauß mit ſ- und s-s

Die ORF-Übertragung erspare ich mir heute, um der zuckerlsüßen Alpenrepublikswerbung zu entgehen (Film: Georg Riha), die das gewitzte und Tourismus-beschlagene ORF Jahr für Jahr für die neujahrsfrohe Welt produziert.

Die Tritsch-Tratsch-Polka wird heute nicht gespielt, auch die Geschichten aus dem Wienerwald und der Kaiserwalzer nicht.

Dafür steht der Walzer Sphärenklänge auf dem Programm. Thielemann ließ ihn 2019 spielen, Jansons 2016. Uraufgeführt wurde er wie viele Werke der Straußfamilie in den 2001 ausgebrannten Sofiensälen. Das Raffinement der Einleitung ist hier zum Zungeschnalzen. Fixer geht es bei der Schnellpolka Auf der Jagd zu. In zwei Minuten schnurrt sie witzig-temporeich ab. Im Donauwalzer glänzt das D-Dur der Hörner wie alpenländischer Waldhonig. 1866 hat ihn der jüngere Johann Strauß geschrieben (Brahms arbeitete gerade am Deutschen Requiem). Wiener werden wissen, dass der Walzer in einer Fassung für Chor seine erste Aufführung erlebte. Die Anfangszeilen lauteten: Wiener, seid froh… / Oho, wieso? / No-so blickt nur um / I bitt, warum? / Ein Schimmer des Lichts… / Wir seh’n noch nichts! Wie die Wiener noch nicht sehen, was 2022 bringt, so sieht man auch anderswo, insbesondere in Berlin, noch nichts.


Weitere Neujahrskonzert-Kritik: „rotweißrote Dauerwerbesendung“ (Manuel Brug), „Phönix, Fledermaus und Edelross“ (Burgenländische Volkszeitung)