Jetzt macht Petrenko auch einen Mini-Zyklus Brahms. Diese Woche erklingt der Publikumsrenner D-Dur-Sinfonie und nächste Woche das mächtige B-Dur-Konzert (mit Schiff). Das ist erstmal gediegenes Philharmoniker-Business, as usual halt und ziemlich erwartbar. Interessanter ist, was neben Brahms passiert. Da stehen ein Hauptwerk eines spezifisch deutschen Expressionismus, Zimmermanns Photoptosis, und die burschickose Nachkriegs-Erste des Polen Lutosławski auf dem Zettel (oder dem Download-Programm).

Brahms, Allegretto, T. 188 / Foto: digitalconcerthall.com/Berliner Philharmoniker

Ich höre Digital Concert Hall.

Unter einem sichtlich genesenen, vital beweglichen Petrenko (Silvester-Hexenschuss, ade) legen die Philharmoniker das kalt lodernde Photoptosis hin. Ich höre abwechselnd gläsern lauernde Farbschichtenstatik (die Farben kommen aus dem Giftschrank) und dramatisch durchleuchtete Durchbrüche. Petrenko sucht nicht die expressive Zermalmung. Über dem Musikgetümmel schwebt bei Petrenko die makellose Struktur. Zimmermann dürfte es freuen.

Der Knaller des Abends ist die charmant verwegene Sinfonie Nr. 1 von Lutosławski von 1947. Die ist viersätzig. Der erste Satz ist knapp. Eine Strawinsky-Trompete intoniert das Thema. Ein Streicherthema taucht auf. Die Textur bleibt lässig. Petrenko macht sich und die Musiker locker. Lässt die Struktur atmen. Da ist plötzlich dieses unmerkliche Kopfschütteln des Dirigenten vor dem zweiten Satz, als wäre es noch nicht Zeit. Vier Sekunden später geht es los, und die Bläser zeigen ihr kapriziöses Kolorit. Schattenhaft verschmitzt und immer von nobler Sprödigkeit präsentiert sich das Allegretto (3. Satz). Und mit dem burlesk abschnurrenden Zappelphilipp-Finale geht das feine, beachtenswerte Werk zu Ende.

Brahms, Finale, letzter Takt. Petrenko duckt sich vor den Wurfgegenständen, die die Holzbläser werfen, weil sie das Tempo zu hoch fanden / Foto: digitalconcerthall.com/Berliner Philharmoniker

Dann folgt Petrenkos Brahms. Diese zweite Sinfonie (Hanslick 1878: leuchtet in gesunder Frische und Klarheit) ist reaktionsschnell, wendig und hell. Das Celli-Thema besitzt gefiederte Cantando-Leichtigkeit. Alles ist dynamisch ausgefeilt (wie selbstverständlich die Geiger sich zurücknehmen, ganz ohne expressive Deutung, das gab’s bei Rattle selten). Die Klangfarbenveränderungen zählen. Aber sie sind nicht Selbstzweck. Es gibt im Kopfsatz Passagen, die nicht den Wörthersee-Brahms meinen, so etwa der statische Fortissimo-Block der Schlussgruppe oder der kontrapunktisch dominierte Teil der Durchführung. Petrenko gibt ihnen Tempo und Schliff. Die Streicher verblüffen, indem sie an den unerwartetsten Stellen Kantables entdecken. Ich glaube, der Balgley am ersten Pult macht das sehr gut. Petrenko hat ein Mittel gegen das totgespielte „Pastorale“ der Pastorale.

Das H-Dur-Adagio und G-Dur-Allegretto sind vorzüglich genau ausgehört, die Mittelteile klingen beide Male schlank und durchaus rasch, ohne zu hetzen. Im nun wirklich schnellen Finale verfehlt Petrenko nicht die Größe der Musik. Ein Exempel an punktgenauer geigerischer Finesse, an entspannter Gruppenkoordination und Timing stellt jedes Mal das zweite Thema dar. Es ist der verblüffende, nahtlose, vollständige Brahms, den ich bei Ticciatis Zyklus mit dem DSO vor drei Jahern vergeblich erwartet hatte. Es ist ein Brahms, mit dem, nun ja, ein wenig Karajan zu den Philharmonikern zurückkehrt (habe ich schon vor zwei Jahren bei Tschaikowsky gedacht).


Weitere Besprechungen: „Hic Berlin, hic salta“ (Hundert11), „Keine Angst vor Kassengift“ (Luehrs-Kaiser), „Am Wörthersee scheint keine Sonne“ (Udo Badelt)