In der Pandemie läuft so ziemlich alles anders. Die Zeit, das Leben sowieso, die Musik. Gerade auch für Musiker und Orchester. Wer kann, spielt, sendet, streamt. Die anderen schweigen. Und mancherorts schnurrt der Betrieb weiter – mit Publikum. Am Teatro Real in Madrid läuft Norma, das Moskauer Bolschoi zeigt Salome. Wir sind weit weg von jeder Normalität. Da ist man für jedes Lebenszeichen von den Berliner Konzertpodien dankbar.

Ein besonders kräftiges kommt vom RSB. Lebenszeichen heißt eben auch: Jetzt und heute spielen, nicht Konserven von Vor-Corona ins Netz stellen. Drei Mal ist das RSB mit Radiokonzerten zur Stelle, zwei Mal allein in dieser Woche. Am Montag bringt Ivan Repušić ein vielseitiges Programm mit, das mit der Sinfonie Nr. 6 beginnt, eines von Haydns kecken Frühchen aus Esterházy. Repušić, eher der Typ unverbindlicher Schwung, zettelt keine interpretatorische Revolution an, aber Zugriff und Plastizität (Bläsersoli) passen. Es folgt die dreisätzige Streicher-Sinfonietta op. 79 des Kroaten Boris Papandopulo, komponiert 1938. Charakteristisch ist da die Trauer-Melodik der Elegie, seinen Wert hat auch das von widerständigem Bewegungsdrang und Final-Frische erfüllte Perpetuum mobile. Entzückend dann auch das selten gehörte Gli Uccelli (Die Vögel) von Respighi, das nichts mit Hitchcock zu tun hat, sondern auf Melodien italienischer und französischer Meister aufbaut. Das Resultat ist eine Klang-Voliere voller Vogelstimmen, in der der Kuckuck nicht fehlen darf. Das Verschränken von Neobarock und transparentem Impressionismus ist hier hochinteressant. Solche fabelhaften Programme sind im Abo-Normalbetrieb schlichtweg unmöglich. Geplant waren eigentlich Schostakowitsch 1. und Dvořák 9.

Vier Tage später spielt das RSB ein allrussisches Programm, Deutschlandfunk Kultur überträgt. Es dirigiert Michail Jurowski, der Vater des Chefdirigenten, geboren 1945 in Moskau. Es ist ein Programm mit Schuss: zwei Mal Schostakowitsch, davor Prokofjew (nach heutigen Begriffen ein Ukrainer). In dessen Sinfonie Nr. 1 klingt heuer nicht die – durchaus legitime – Prokofjew’sche Blasiertheit an, sondern eine an den Rosenkavalier erinnernde Freude an altmodischem Glanz. So weit ich mich erinnern kann, ist das die fesselndste – mit Abstrichen im Finale – Symphonie Classique, seit ich denken kann. In der Pause erzählt der Dirigent von seinen Begegnungen mit Prokofjew (in der Wohnung der Jurowskis, rote Haare, rote Schuhe, schnarrende Stimme, graue Streifen im Anzug) und Schostakowitsch (der Teenager Jurowski spielt in der Datscha mit Schostakowitsch zusammen Tschaikowskys Vierte vierhändig).

Die beiden Klavierkonzerte von Schostakowitsch gelingen nicht so fesselnd, Jurowski lässt laufen. Aber wie passend, die Werk-Zwillinge einmal zusammen zu hören. Die Konzerte – Nr. 1 von 1933, Nr. 2 von 1957 – ähneln sich. Beide sind jeweils dreisätzig (das Moderato in Nr. 1 dürfte eher Einleitung zum Finale sein), recht kurz, bei beiden klingt der zweite Satz verführerisch behutsam, bei beiden jongliert das Finale virtuos mit gestochen scharf geschnittenen Themen. Das Klavierkonzert Nr. 1 schreibt Solotrompete (klasse Florian Dörpholz) plus Streichorchester vor. Das hierzulande immer noch unterschätzte Konzert Nr. 2 bringt zwar das volle Orchester, ist aber zurückhaltender in der Faktur. Die Pianistin Anna Winnitskaja trotzt den technischen Schwierigkeiten, die jeden Pianisten in diesen zwei Mal zwanzig Minuten erwarten, mit wieselflinkem Spiel. Sprudelnd, spritzig-witzig und heiter-hell tönt das – nur etwas leichtgewichtig. Die Akkordblitze der Final-Coda des 1957er-Werks hätten in all ihrer glashellen Schärfe noch mehr mitreißende Würze vertragen.

Foto: Digital Concert Hall/Berliner Philharmoniker

Am Samstag spielen die Philharmoniker unter Christian Thielemann ein gelungenes Konzert, das letzte der Streaming-Reihe „Goldene Zwanziger“. Von Hindemith die Ouvertüre zu Neues vom Tage. Das Werk ist sicherlich nicht Hindemiths Gewichtigstes, aber formidabel geeignet, dem Folgenden den Weg zu bahnen. Von Busoni der hell gehörte Tanzwalzer von 1921, an dem keine Note überflüssig sein mag. Da werden nostalgisch, aber nicht ewig-gestrig, vergangene Zeitalter beschworen. Und schon ist das Feld bereitet für den Walzer Künstlerleben von Johann Strauß-Sohn. Ohne die sinnliche Raffinesse, ohne den Schmäh der Wiener, aber mit so viel hinreißender Diskretion von den Berlinern Philharmonikern dargeboten, dass man Thielemann verpflichten sollte, jedem seiner hiesigen Programme einen Strauß-Walzer hinzuzufügen. Man sieht, die thematische Klammer „Zwanziger Jahre“ wird von Thielemann denkbar großzügig aufgefasst. Aber der Abend entfaltet maximal intensiven Reiz. Dann kommt Musik von Richard Strauss, frühe Lieder.

Foto: Digital Concert Hall/Berliner Philharmoniker

Camilla Nylund singt Ständchen, Freundliche Vision (einen behaglichen Belle-Époque-Tagtraum), Wiegenlied aus op. 41, Allerseelen (das erst auf den zweiten Blick beklemmende Zwiegespräch mit der toten Geliebten), Zueignung und Morgen (der unerschütterliche Glaube der Kaiserzeit ans Glück). Die Qualität der Texte schwankt (Einst hielt ich, der Freiheit Zecher, / Hoch den Amethysten-Becher). Was der Musik schnuppe zu sein scheint. Nylund findet für die Lieder Sorgfalt der Deklamation (und fast noch mehr des Klanges) und eine für die aus Vasaa gebürtige Finnin typische gebremste Emphase – die absagende Diana Damrau hätte sicherlich süffiger, aber auch mit breiterem Pinsel gesungen. In die Sopranspitzen mischt Nylund einige Spritzer Aceto Balsamico. Nicht alle Orchesterfassungen stammen von Strauss, sondern offenbar von Mottl (Ständchen) und Heger (Allerseelen).

Schlussendlich Strauss‘ Tageszeiten für Männerchor von 1928. Der Rundfunkchor singt. Die fünf Eichendorff-Texte feiern den Lebensmut (in Morgen) und verzichten in Abend und Nacht auf die direkte Anspielung auf Trauer und Tod. Unterstützt wird der starke Eindruck, den das Werk hinterlässt, durch die Tonsprache. Die dreht sich definitiv in einer anderen Stil-Galaxie als die 1. Sinfonie von Kurt Weill, dirigiert von Petrenko, die ein anderer Höhepunkt des 20er-Online-Festivals war. So was wie die Tageszeiten ist möglich nur beim späten Strauss, dessen Schaffen in den 20ern immer noch im Schatten von beispielsweise Frau ohne Schatten und Arabella, steht.

Alles in allem also eine interessante Berliner Musik-Woche in immer noch publikumslosen Zeiten.