Ich sitze am Pfingstmontag wieder in der aufregenden Francesca da Rimini.
Jonathan Tetelman bietet wieder kühl passioniertes Singen mit umwerfend viriler Ausstrahlung und attraktiver Physis. Sein Tenor klingt kraftvoll dunkel. Da blüht selbstbewusst der stimmliche Glanz. Tetelman bringt das Kunststück zustande, zugleich nach bestem Schwiegersohn und nach idealem Latin Lover zu klingen, eine Traumkombi für Tenöre.
Nun also, zwei Jahre nach der Digitalpremiere, die Vorortpremiere von Riccardo Zandonais hinreißender, 1914 uraufgeführter Mittelalteroper Francesca da Rimini, mit Publikum, an der Deutschen Oper, in identischer Sängerbesetzung, und alles in echt.
An der Bismarckstraße passt diese kraftvolle Francesca in eine Reihe von Neuproduktionen, die Geschmack und Vergnügen abseits der Repertoire-Trampelpfade versprechen: Wunder der Heliane, Don Quichotte, Die Schatzgräber, Sizilianische Vesper, Der Zwerg, die Meyerbeer-Dramen – alles Opernfundstücke, vielfältig, erfrischend wagemutig, dabei herrlich genrefluide.
Und Sara Jakubiak besitzt als Francesca, als souverän und bedenkenlos Liebende, fantastische Bühnenausstrahlung und unbezähmbare Noblesse. In edel schwarzer Robe in Akt 3 ist sie eine Augenweide. Ihre Stimme strahlt dunkel, beseelt und charakteristisch timbriert. Jonathan Tetelman macht aus dem Paolo einen schlanken Tenortraum, seine Stimme hat squillo, strömt in jedem Moment frei. Singen tut der Chilene brillant und nuanciert, voll markanter Virilität, durchaus mit heldischen Untertönen. Nur das in die Tristansphäre weisende Bekenntnis Nemica ebbi la luce, amica ebbi la notte („Feind war mir der Tag, Freund war mir die Nacht“) klingt zu wenig leiderfahren. Den Gianciotto gibt Ivan Inverardi ruppig und sängerdarstellerstark, macht somit den verunstalteten Liebenden (und eifersüchtig Rasenden) in jeder Faser glaubhaft.
Wie an einer endlosen Kette reihen sich in Lucia di Lammermoor die Melodien aneinander. Melodien, so weit das Ohr reicht, wenn man von horndominierten Vorspielen und sparsamen, feurigen Chorszenen absieht. Donizettis Schottenoper (nach Walter Scott, Libretto von Cammarano, der schrieb für Verdi auch den Troubadour mit ähnlich düsterer Vorgeschichte) ist ultraromantisches Musiktheater und Sopranfutter allerfeinster Güte. Hier vereinen sich kokett gespreizte Koloratur, flotter Rhythmus und erlesenste Gefühlsexposition mustergültig zum dramma tragico.
Dabei ist die Inszenierung von Sanjust von 1980 gewiss kein Meisterwerk. Ihr Kostüm- und Gestenplunder fiel damals schon aus der Zeit. Doch steht der Produktion inzwischen schon aus Altersgründen Bühnen-Denkmalschutz zu. In ihrer Schaulust, in ihrer ingeniös tiefengestaffelten und auch wieder wohltuend sparsam möblierten Bühne zeigt sich eine andere Opernästhetik, eine, die anders sah und vermutlich auch anders hörte als heutzutage. Kurios statisch die Chöre, bieder bis lustig die Kostüme. Groß wie Lampenschirme die Stiefelstulpen, apart die Spitzenlätzchen der Männer. Die Frauen bewegen sich im Biedermeierlook der Entstehungszeit der Oper. Der Chor singt wie schon in Aida zum Viertel bis Drittel mit Masken. Hörvergnügen kommt da nicht auf.
Das ist aber mal eine mausegraue Rigoletto-Wiederaufnahme. Zumindest musikalisch. Erinnert sich in Berlin noch jemand? Vor der Pandemie sangen Sierra (berührend) und Garifullina (brillant) die Gilda und Fabiano (schneidig) und Demuro (elegant) den Herzog. Heute heißen die Kräfte Pirgu und Morley, er der Tenor-Mann fürs Verdi-Grobe, sie ein allzu blasses Verdi-Mädl, das ein paar schöne Momente hat. Wenigstens Repušić am Pult sorgt für melodramma-Feuer.
Wie war das noch mal mit Bartlett Shers zahmer, in Rot-Blau-Gold gehaltener Rigoletto-Vergegenwärtigung? Die schiebt die intimen Innenräume hin und her (Rigolettos Haus, Mörderspelunke), während sich in der Art-Deco-Festhalle die galauniformierten Höflinge tummeln. Die Typen vom Sicherheitsdienst (Breeches und Reitstiefel, beides in Schwarz) mimen die unverzichtbaren Bühnen-Nazis. Letztendlich flott konventionell spult also der gutgeölte Gang der Handlung ab. Ansehnlich sind indes die Kickboxing-Tritte von Gilda gegen ihre Entführer, Nadine Sierra hatte die 1a drauf.
In der Pandemie läuft so ziemlich alles anders. Die Zeit, das Leben sowieso, die Musik. Gerade auch für Musiker und Orchester. Wer kann, spielt, sendet, streamt. Die anderen schweigen. Und mancherorts schnurrt der Betrieb weiter – mit Publikum. Am Teatro Real in Madrid läuft Norma, das Moskauer Bolschoi zeigt Salome. Wir sind weit weg von jeder Normalität. Da ist man für jedes Lebenszeichen von den Berliner Konzertpodien dankbar.