Unter den Linden sehe ich Philipp Stölzls Fliegenden Holländer.
Die Inszenierung bietet wenig Regie- und viel Erzähl- und Fabuliertheater. Und kein Video. Dafür arbeitet Stölzl mit zwei Erzählebenen, die sich erstaunlich geschmeidig in Wagners Wortlaut lösen, Dalands trüber Realität und Sentas hochfliegendem Traum.
Senta singt Ricarda Merbeth. Die verströmt mit kraftvollem Sopran hochromantische, zum Fieberwahn neigende Gefährlichkeit. So tönt das Johohohe zu Beginn der Ballade als leise Evokation, hat die Attacke sopranpräzisen Biss, eröffnet sie jede der drei Strophen, wenn ohne Sicherheitsnetz gesungen wird, gestochen scharf, überdies rhythmisch passgenau. Die Stimme hat unten in den letzten Jahren etwas verloren, aber nicht Klarheit, Kontrolle. Die Sopranspitzen sind Eisen- und Stahl-bewehrt. Ist sie nicht die beste Elektra? Klang, jetzt mit Merbeth im Ohr, Grigorians Bayreuther Senta nicht unbedarft, angelernt? Die Schauspielerin der Senta stellt ja eine Mischung aus kindlich Verträumtem und verlümmelt Görenhaftem dar.
Was die Regie von Tscherniakow angeht, ist Götterdämmerung wohl der am wenigsten zwingende Teil der Tetralogie. Die Eber-Jagd des dritten Akts durch Firmensport zu ersetzen wirkt beliebig. Für die zentrale Waltrautenszene (Violeta Urmana mythisch gut) muss sich der Zuschauer mit statischem Sofasitzen begnügen, und die Szene, in der die Rheintöchter (geduldig streng mit Siegfried: Ekaterina Chayka-Rubinstein, Natalia Skrycka, Evelin Novak) den topfitten Siegfried einem Gesundheitscheck mit anschließender Lebensberatung unterziehen, hängt genauso in der Luft wie zuvor die Zusammenkunft der Nornen, wo die Nornen in Stützstrümpfen und eisgrauen Haartürmen trippeln.
Die „Märchenoper“ Siegfried (Dahlhaus) scheint, was Handlung und Personal angeht, spröder als Walküre oder Götterdämmerung. Siegfried, das Musikdrama, ist mehr Märchen als Drama. Zwei Sphären bestimmen die Oper, Menschenwelt und Mythos. Die Zukunft gehört ersterer: Siegfried tötet den letzten der Riesen und jenen Zwerg, der seiner Wälsungenmutter rettendes Obdach gewährte.
Anja Kampe singt die Siegfried-Brünnhilde mit Wärme und Elastizität und klingt souveräner als zur Premiere, Kampe scheint genau zu wissen, was sie kann. Zu den glanzvollen Akkorden der Weltbegrüssung (Wolzogen, 1878) von Heil dir, Licht vernimmt man nun sogar eine erste zarte Spur von genuinem Pathos. Den Oktavsprung auf das hohe C auf Leuchtend aus O Siegfried! Leuchtender Spross bekommen live nur wenige so gut hin wie Kampe in der Staatsoper Berlin 2024.
Der neue Bayreuther Parsifal ist üppig dekorativ, kindisch verspielt und von den meisten tieferen Einsichten frei. US-Regisseur und Bayreuth-Neuling Jay Scheib lockt das Auge mit Farben wie Zitronengelb und Barbie-Pink – und vergrault mit vielen losen Erzählansätzen.
Heuer läuft Richard Wagners Titelheld (Andreas Schager) in zerrissener Patchwork-Hose und gehüllt in eine Weichgummijacke (Bauarbeiter oder Müllmann?) auf. Ganz anders der Gurnemanz (Georg Zeppenfeld). Der ist ein aufrechter Best-Ager, zerfurchten Antlitzes, in gelbem, wie eine Schürze getragenem Kampfrock und weißem Businesshemd – apart (Kostüme: Meentje Nielsen).
Alle Bilder: Livestream BR Klassik / Bayreuther Festspiele 2023
Die Gralsritter stellen eine recht harmlose Sekte in zitronengelben Gewändern dar. Sieht so die postkapitalistische Sinnsuche aus? In hinreißend dekorative Röcke kleiden sich die Knappen. Aber irgendwie bleibt dies ohne Anbindung an die Parsifalgeschichte. Lustig: Der Kittel des Amfortas gibt durch ein sauber ausgeschnittenes Loch den Blick auf das Schwären der fatalen Wunde frei.
Das ist die neue Götterdämmerung. Das ist der neue Berliner Ring.
Tötet Hagen Siegfried, dann tut er dies in der Sporthalle des Forschungsinstiturs ESCHE während einer Pause beim Betriebssport mit einer Fahnenstange. Der Mythos ist zuende, das Walhall Wotans nur noch eine schlurfende Erinnerung, die Schaffung des neuen Menschen an Ring-Fluch und Hagen-Intrige gescheitert.
Es herrscht Jetztzeit, nagelneu die Bestuhlung der vertraut gewordenen ESCHE-Räume. Weggeräumt der DDR-Muff der Siebziger. Der Zuschauer sieht klinisch reinen Stahl und Glas. Wenn noch Gestalten aus der Tiefe des Mythos auftauchen, dann so hager vergreist, so fastnackt wie Alberich (ein barocker Hieronymus oder Chronos) oder stumm wie Wotan, im schon bekannt verlotterten Pensionärslook (und nur noch interessiert an einer netten Tasse Kaffee).
Siegfried hat nicht ganz die Höhe wie Die Walküre. Das liegt an – Thielemann und Kampe. Und an Tscherniakow.
Am zweiten Tag des Bühnenfestspiels, da der Märchenstoff des jungen Siegfried den Göttermythos um Wotan verdrängt, bevorzugt Dmitri Tscherniakow das ruhelose Kreiseln der Drehbühne. Das horizontale und vertikale Ausgreifen der rätselhaften Raumfolgen des ESCHE-Forschungsinstituts tritt (vorerst) in den Hintergrund. Der einsame Alberich schlurft nun ruhelos um Neidhöhle, stößt Tür um Tür auf, bis er auf den gehassten Bruder und seinen alten Widersacher Wotan trifft. Aber was will Tscherniakow eigentlich sagen? War Rheingold die kühne Intrada, war Walküre die virtuose Weitung, ist Siegfried die Verwässerung.
Was hauptsächlich für die Konzeption gilt. In den einzelnen Szenen wird noch leidenschaftlich genau inszeniert. Und gespielt.
Dass ziemlich Gute beim Jung-Siegfried von Andreas Schager (Trainingsanzug, Schlabbershirt) ist, dass er die gedankenlose Garstigkeit dieser kulturlosesten aller Wagnerfiguren umbiegt in etwas, das wirklich nach Aufbruch aussieht. Und Tcherniakov hilft dabei. Er tilgt den Märchenton, der Regie und Tenöre traditionellerweise zu Peinlichkeiten reizt. Weil Schager bestechend singt – spontan, leicht, fest, umwerfend locker in der Aussprache, nie nur Deklamation, immer ein bissl Legato – ist dieser Siegfried imponierend. Schager deutet Wagners Heroentum burschikos in eine Art höheres Anti-Heldentum um. Gegen Schagers Frische wirken alle anderen heutigen Heldentenöre behäbig.
Max Frisch und Martin Walser beim Gedankenaustausch / Foto: Monika Rittershaus
Der Mime von Stephan Rügamer (die Brille à la Max Frisch, die Hose mit Hosenträgern bis über den Bauchnabel gezogen) wird fabelhaft gespielt und listig kichernd gesungen. Dem Wanderer nimmt die Regie meines Erachtens viel, wenn sie Michael Volle als pensionierten Instituts-Chef in ausgebeulter XXL-Sommerjacke nur noch altersmatt durch die ESCHE-Flure streichen lässt (heute hätte ich von Volle auch mehr Gesang gewünscht, und weniger Deklamation). Den Fafner mimt Peter Rose (heute passt sein leicht überreifter Bass) in Zwangsjacke, verwahrlost, asozial, und doch ein gefährlicher Hüne, vor dem Siegfried sich im Zweikampf vorsehen muss. Macht Spaß. Den Drachenkampf habe ich nie packender gesehen.
Es stimmt schon, dass dieser neue Berliner Lohengrin angezählt ist. Im ungemütlichen Berliner Dezember 2020 sang Roberto Alagna bei der Streampremiere seinen allerersten Lohengrin und erntete Kritik und Häme (das böse Wort vom „singenden Pizzabäcker“). Calixto Bieitos Inszenierung war allem Online-Augenschein auch nicht dazu angetan, Wagnerianer zu freudigen Hojotoho-Rufe zu verleiten.
Zu viel uninspiriertes Regietheater, eine große neonerleuchtete schwarze Leere, ein variabel versetzbares Stahlgestell, Bürostühle (Bühne Rebecca Ringst). Dazu ein paar freche Videofilme (talentiert: Sarah Derendinger). Fehlte noch der Faltpapierschwan, fertig war die neue Schwanenoper.
Und nun? Nun, 16 Monate später, sieht und hört man differenzierter.
Wieder heißt der Linden-Schwanenritter Roberto Alagna. Er spielt gut. Er singt gut. Klangmischungen, Ausdruck und Phrasierung sind außergewöhnlich, wenn man akzeptiert, dass man die gealterte Stimme eines fast Sechzigjährigen hört. Die Verblendung der Register beeindruckt. Alagnas Deutsch ist OK. Das süße Lied hat den scheuen Zauber des Anfangs, In fernem Land bringt utopische Lyrik und chevalereskes Pathos zusammen (die Spitzentöne sitzen schlecht). Bei aller Brüchigkeit der Stimme ist das sehr beeindruckend. Der Mann formt jede Silbe, jede Phrase, und ich höre gebannt die immense musikalische Erfahrung eines Bühnenlebens mit. Ja, da ist etwas Italienisches in diesem Lohengrin (Aufnahme von Borgatti bei den Kommentaren). Erlesen könnte man ohne jede Ironie Alagnas Kunst der Bühnengestik nennen. Das ist schon eine andere Schule der Bühnendarstellung wie bei Seiffert an der DO, der auch vokal ganz andere Wagnermeriten ins Feld führt.
Der Berliner Musikdezember ist bei weitem besser als das Berliner Dezemberwetter.
Stéphane Denève dirigiert beim DSO Elgar, Roussel und Ravel, und bei Elgars Cellokonzert sitzt der junge Brite Sheku Kanneh-Mason am Instrument. Da StephaneDenève wie ein hartgesottener EU-Brexit-Unterhändler gegen jede Art von aus der Zeit gefallenem Viktorianismus zu Felde zieht, erklingt Elgars Altersmeisterwerk mit einer leicht nüchternen Note. Die viersätzig-suitenhafte, von zusätzlichen Rezitativ-Introduktionen bereicherte und zugleich von Satzungleichgewichten belastete Form fasziniert mich auch heute. Weitere Interpretationstendenzen: Solist und Orchester drängeln in den raschen Sätzen (Scherzo im 4/4-Takt und Finale). Dafür lässt Sheku Kanneh-Mason das Cello in den beiden Adagio-Sätzen gefühlvoll singen.
Mamma mia, wie quälend lange kann eine Prima aus der Scala sein. Für mich sind die rezitierten Texte (u.a. von Dante, 2021 ist 700. Todestag) astreine Stimmungs-Killer. Außerdem ist längst nicht alles Stimmgold, was auf dem Bildschirm glänzt. Aber es gibt berückende Momente. Das schon. Arte überträgt. Es ist ein Abend à l’italienne. Viel Verdi, einiges von Puccini, dazu ein bissl Belcanto, Französisches, Verismo, ein bissl Wagner. Nichts, was der Melomane nicht kennt.
Ich schaue mir das Ganze nicht an, sondern nehme auf und höre zu später Stunde nach – und schaue stichprobenartig in den Arte-Stream („Ein besonderer Abend an der Mailänder Scala“) rein.
Man startet leidlich mit Rigoletto. Denn Luca Salsi gibt den antihöfischen Hassausbruch Cortigiani, vil razza mit viel Larmoyanz und wenig Wucht, und der zum Supertenor hochgepuschte Vittorio Grigolo verfügt in der Cavatine La donna è mobile über ein allzu dünnes Stimmchen. Obendrein läppert es mit der Interpretation. Besser ergeht es dem Don Carlo-Block. Ordentlich Ildar Abdrasakow, der für Ella giammai m’amò ausreichend königliche Tristesse bereithält, baritonfein dann Ludovic Tézier, der edles Material und geschmeidiges Legato präsentiert (Per me giunto), und schlussendlich, in O don fatale, die herzzerreißend kühle Elina Garanča als elegante Belle-Epoque-Reisende. Keine der Mezzos verflucht derzeit eloquenter die eigene Schönheit.
Regnava nel silenzio: Lisette Oropesa als goldnes Belcanto-KehlchenWeiterlesen →
Auf den letzten Metern lerne ich die Inszenierung von Guy Cassiers beinahe schätzen. In Götterdämmerung stimmt die Personenregie. Triftig zumindest gelingen die ersten beiden Szenen in der Gibichungenhalle samt Rache-Terzett.
Kaum zu glauben aber wahr. Richard Wagner dachte eine Zeit lang, Siegfried werde sein populärstes Werk. Kurz darauf kam Wagner auf den seltsamen Gedanken, aus dem Stoff von Tristan und Isolde eine kurze, komische Oper zu machen.
Mit dem Tristan kann ich gut und gerne zufrieden sein. Er vereinigt wohl den derzeit gefragtesten Wagnertenor, eine vokal erstaunlich gewachsene Isolde, prächtige Darsteller für Brangäne, Melot und Kurwenal und einen Marke von großem Format.
Andreas Schager, der zur Zeit Lohengrin in Wien singt (am Freitag zuletzt, erneut übermorgen), gastiert im Apollosaal der Staatsoper Berlin. Auf dem Programm stehen Lieder von Wagner, Beethoven und Strauss. Seine Frau, die Geigerin Lidia Baich, steuert im Reißverschlussverfahren Stücke von Wagner, Prokofjew und Strauss bei. Es ist ein gelungenes Lied-Recital. Weiterlesen →
Festtage an der Staatsoper Berlin. Unter der Leitung von Daniel Barenboim spielt die Staatskapelle Berlin den Tscherniakow-Parsifal in einer hörenswerten Besetzung.
Nach Tscherniakows Tristan und Isolde (Premiere 2018) nun also dessen Parsifal (Premiere 2015). Gemeinsamkeiten fallen auf. Rückblenden führen in entbehrungsreiche Kindheiten. Die Heldin kleidet sich in urbanem Mainstream-Chic. Der Mythos ist verblasst und die Gegenwart zeichnet sich Weiterlesen →