Auf den letzten Metern lerne ich die Inszenierung von Guy Cassiers beinahe schätzen. In Götterdämmerung stimmt die Personenregie. Triftig zumindest gelingen die ersten beiden Szenen in der Gibichungenhalle samt Rache-Terzett. 

Bei Trekel sitzt jede noch so kleine Geste, Samuil spielt das Verlegenheits-Nesteln am Zopf frisch und suggestiv und Schager ist sowieso außer Rand und Band. Aber kann man bestreiten, dass die Walküre packender war als Siegfried? Und Götterdämmerung wiederum mitreißender ist als Siegfried?

Die Hauptprotagonisten sind in sängerisch glänzender Verfassung. Schager klingt beinah übermütig, Theorin gelingt heute Abend fast alles. Andreas Schagers spielerische, immer die Figur treffende Herangehensweise ist Balsam für Seele und Ohr. Nur in der Anrufung Brünnhildes, tödlich verletzt von Hagens Speer, findet Schager nicht den Seelenton. Iréne Theorin singt die Brünnhilde, die sich vom kühnen, herrlichen Kind zur verratenen, alle in den Untergang mitreißenden Furie wandelt, intensiv und immer dramatisch plausibel. Theorin spart nichts auf bei den Verrat!-Rufen und dem Manne dort-Ausbrüchen. Nur der Schlussgesang zerfällt, bleibt fahrig, berührt nicht. Dennoch, selten meistert ein Paar so souverän die immensen Schwierigkeiten beider Partien, und dies tröstet in der Staatsoper Unter den Linden auch über die so freudlose Jetztzeit-Welt der Götterdämmerung hinweg, in der Brünnhildes und Siegfrieds Liebes-Projekt so krachend scheitert wie Speereid- und Verschwörungsszene zum Sinistersten zählen, was das 19. Jahrhundert in der Oper ersonnen hat.

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All die finsteren, dem Untergang geweihten Männer sind ebenfalls in Form. Falk Struckmann singt einen bösen, kantigen, düsteren Hagen voller drastischer Energie und dämonischer, deklamatorischer Kraft. Roman Trekel gestaltet den Gunther (in Schaftstiefeln und Schnürleib) als blässlichen, hochmütigen Spätgeborenen und singt dabei liedhaft genau. Wie mag ich Trekels Rollenporträts. Ich gedachte des verstorbenen Gerd Grochowski, der den Gunther noch 2013 sang. Und Jochen Schmeckenbecher zeichnet die intrigante Machtgier des Schwarzalben Alberich mittels eines heftigen Deklamationsstils.

Und die Frauen? Die Gutrune von Anna Samuil (auch 3. Norn) gefällt durch Wärme in Stimme und Spiel. Ekaterina Gubanowa (auch 2. Norn) wiederholt nicht die gute Leistung der Fricka und bietet die schwächste Leistung des Abends mit einem Vortrag ohne Biss, pauschal bei der Wortbehandlung und farbloser tiefer Lage – mehr Tempo im Graben hätten ihr vermutlich gut getan. Die wie eh und je neckischen Rheintöchter – wirklich famos gesungen von Evelin NovakNatalia Skrycka und Anna Lapkowskaja (auch 1. Norn) – erscheinen plötzlich als nostalgische Überbleibsel des goldenen Zeitalters, das nach sieben Morden, zwei Suiziden und drei zerstörter Ehen für immer verlorenen scheint.

Dass keiner im Publikum lacht, als Brünnhilde von der selbstleuchtenden Vitrinentreppe in den Rhein hopst, grenzt an ein Wunder (Bühne: Cassiers, Enrico Bagnoli). Schade auch, dass die Ring-tragende Hand des toten Siegfried sich nicht gespensterhaft erhebt. Dem Schlussgesang der Brünnhilde mit seinem schopenhauerisch-buddhistischen Einschlag konnte ich nie viel abgewinnen. Die erste Fassung lautete noch: Nicht Gut, nicht Gold, noch göttliche Pracht, nicht Haus, nicht Hof, noch herrischer Prunk… selig in Lust und Liebe lässt – die Liebe nur sein. Hätten diese Worte nicht besser zur kühnen, eigensinnigen Brünnhildenfigur aus Die Walküre gepasst?

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Die Götterdämmerung spielt die Staatskapelle Berlin ähnlich souverän runter wie Walküre. Überzeugend fasst Barenboim das teppichdicht gewebte Motivgeflecht zu Sinneinheiten zusammen. Der Sinn für Zusammenhalt ist packend. Wie ein Fächer öffnet das Orchester den Bogen unendlicher Temponuancen: von auskostender Langsamkeit bis hin zu flammendem Voranstürmen. Wie Barenboim in der symphonischsten aller romantischer Opern Motive, Themen, Gesten, kühne harmonische Ideen und Färbungen in einem musikalischen Strom zusammenführt, dürfte ihm so schnell keiner nachmachen. Nornen- und Waltrautenszene finde ich wieder zu langsam. Den Trauermarsch fand ich 2013 eindrucksvoller.

Ein einzelner, aber umso hartnäckigerer Buhrufer im 1. Rang bedenkt Theorin und Barenboim. Das war vermutlich der gleiche Mann, der auch schon in Siegfried zur Meinungsvielfalt beitrug.


Götterdämmerung-Kritik von Hundert11: Richard-Wagner-Medaille am regenbogenen Band

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