Es stimmt schon, dass dieser neue Berliner Lohengrin angezählt ist. Im ungemütlichen Berliner Dezember 2020 sang Roberto Alagna bei der Streampremiere seinen allerersten Lohengrin und erntete Kritik und Häme (das böse Wort vom „singenden Pizzabäcker“). Calixto Bieitos Inszenierung war allem Online-Augenschein auch nicht dazu angetan, Wagnerianer zu freudigen Hojotoho-Rufe zu verleiten.

Zu viel uninspiriertes Regietheater, eine große neonerleuchtete schwarze Leere, ein variabel versetzbares Stahlgestell, Bürostühle (Bühne Rebecca Ringst). Dazu ein paar freche Videofilme (talentiert: Sarah Derendinger). Fehlte noch der Faltpapierschwan, fertig war die neue Schwanenoper.

Und nun? Nun, 16 Monate später, sieht und hört man differenzierter.

Wieder heißt der Linden-Schwanenritter Roberto Alagna. Er spielt gut. Er singt gut. Klangmischungen, Ausdruck und Phrasierung sind außergewöhnlich, wenn man akzeptiert, dass man die gealterte Stimme eines fast Sechzigjährigen hört. Die Verblendung der Register beeindruckt. Alagnas Deutsch ist OK. Das süße Lied hat den scheuen Zauber des Anfangs, In fernem Land bringt utopische Lyrik und chevalereskes Pathos zusammen (die Spitzentöne sitzen schlecht). Bei aller Brüchigkeit der Stimme ist das sehr beeindruckend. Der Mann formt jede Silbe, jede Phrase, und ich höre gebannt die immense musikalische Erfahrung eines Bühnenlebens mit. Ja, da ist etwas Italienisches in diesem Lohengrin (Aufnahme von Borgatti bei den Kommentaren). Erlesen könnte man ohne jede Ironie Alagnas Kunst der Bühnengestik nennen. Das ist schon eine andere Schule der Bühnendarstellung wie bei Seiffert an der DO, der auch vokal ganz andere Wagnermeriten ins Feld führt.

Berlin Staatsoper Roberto Alagna Vida Miknevičiūtė

Die Elsa der Litauerin Vida Miknevičiūtė klingt wie die Eisprinzessin von der niederländischen Waterkant. In Jäckchen und Stiefeletten erinnert sie mich an Nina Hoss (als das Deutsche Theater für kurze Zeit die führende Bühne war). Aber wie baltisch kühl und wie mit ungefährdet leuchtender Höhe sie agiert! Miknevičiūtė nehme ich Ausdrucksscheu und tödlichen Ernst der Jugend sofort ab (sang jemand Für dich wollt ich bis zum Tode gehen schon glaubhafter?). Sie spielt die Brautgemachszene irre toll. Ein siegreicher Sopran, der sein Geheimnis zu bewahren weiß.

Vida Miknevičiūtė Elsa, Roberto Alagna Lohengrin

Martin Gantner ist ein hellstimmiger, straffschallender Telramund, als letzter Radbodsproß giftet die Ortrud von Iréne Theorin hochdramatisch daher, schaurig lustvoll schnappen die Spitzentönen zu. Das macht Spaß. Auch der Heerrufer von Adam Kutny hat seinen aufregend vibrierenden Leichtigkeitsbariton gut im Griff – ich bin zwei Mal drin, beim zweiten Mal spielt Kutny leider nur. Zu leicht wiegt der Heinrich des Grigory Shkarupa, der die königliche (Stimm-)Autorität markieren muss (Pape sagte wie so oft in letzter Zeit ab).

Hü und Hott gibts beim Dirigenten Matthias Pintscher. Barenboim scheint sich von den früheren Wagneropern ja verabschiedet zu haben. Ich sitze einmal im Rang und einmal im Parkett. Von oben klingt die Staatskapelle zackig und hat Zunder, die Crescendi explodieren wie Überfallkommandos (aber der Geigenklang dünn wie ungekochte Spaghetti). Vom Parkett, beim zweiten Mal, klingts nur nüchtern und fad. Vielleicht reagierte Pintscher auf die Buhs beim ersten Mal mit unguter Zaghaftigkeit.


Kritik der Streamingpremiere: „Regietheater rückwärts“ (Manuel Brug),

Kritik der Publikumspremiere: „Verblendet“ (Joachim Lange)