Kaum zu glauben aber wahr. Richard Wagner dachte eine Zeit lang, Siegfried werde sein populärstes Werk. Kurz darauf kam Wagner auf den seltsamen Gedanken, aus dem Stoff von Tristan und Isolde eine kurze, komische Oper zu machen.
Wie man weiß, kam es ganz anders.
Der scherzoleichte und parlandofrohe Siegfried hat fragwürdige Längen. Der 2. Aufzug, mit Wurm-Szene und Mime-Mord, ist vielleicht der uninspirierteste des gesamten Rings. Auf mich wirkt Siegfried bisweilen wie ein aus rein dramaturgischen Gründen erzwungener Nothalt zwischen Wälsungen-Walküre und Gibichungen-Götterdämmerung.
Umso erstaunlicher, dass Andreas Schager der dreisten Jugendlichkeit der Titelrolle viel Herzzerreißendes abgewinnt. Schagers Spiel, sein Singen scheinen spontan und burschikos – und fügen sich wunderbar zwischen Konvention und frecher Operetten-Frische ein. Schager gelingt selbst das Kunststück, Siegfrieds Mime-Hass für den Zuschauer nicht zu peinsam werden zu lassen. Kurz, Schager (im pittoresken Halbstarken-Outfit) ist das Ereignis des dritten Tetralogie-Abschnitts. Monumental, aber im Schmiedelied das Liedhafte nicht leugnend, und berührend in den Monolog-Rezitativen vor dem Drachenkampf und nach dem Mord, singt der Österreicher mit einer Lockerheit, die Wagnerianern strikter Observanz den Angstschweiß auf die Stirn treiben dürfte – und unterläuft so etwaiges Übermenschentum.
Dieses Übermenschentum küsste Wotan von Brünnhildes Augen erst weg (Walküre: so küsst er die Gottheit von ihr) – und schwupps ist Brünnhildes Dekolleté um ein paar Kubikmeter größer. Ich komme mir vor wie vor der Fleischtheke beim Metzger meines Vertrauens. Offenbar wollte Tim Van Steenbergen (Kostüme) es so. Was Iréne Theorin aber nicht anficht. Mit auch im Mezzoforte metallisch angereicherter Wucht legt sie los, wenn auch wenig konsonantenecht und vokalverständlich. Freilich intoniert sie Ewig war ich mit unstetem Ton, und in dem höllischsten aller Schlussgesänge schallt sie uneben und wenig strahlend. Ein leiseres Orchester wäre hilfreich gewesen.

Eine Ring-Inszenierung bietet stets auch interessante Einblicke in die globalisierte Wagner-Folklore. Am schlimmsten trifft es dieses Mal den Wanderer, der als wandelnde Kleidergarderobe für 80er-Jahre-Second-Hand-Klamotten über die Bühne schlurft. Michael Volle (das fehlende Auge geschwärzt, weiß geschminkt der Teint, mit Schlapphut und Speer) singt den gefallenen Gott mit großer Autorität, agiert aber oft nahe am Sprechgesang und markiert den Oberboss als rastlosen, kleinlichen Querulanten, was als Charakterisierungsleistung großartig ist, doch sängerisch hätte ich mehr Legato gewünscht. Mime Stephan Rügamer singt den unglücklichen Zwerg, dem alles misslingt, auf was er auch sinnt, passgenau zwischen Kantabilität und krakeelendem Deklamieren. Als Alberich, der Wotans Ränke durchschaut, ohne selbst zum Zug zu kommen, singt Jochen Schmeckenbecher etwas undiszipliniert. Den Fafner mit leider verstärkter Stimme bewältigt Falk Struckmann mit drastischem Bass. Die Erda von Anna Larsson steckt in einem Kleid, dessen Schleppe als Gardine in Übergröße vom Bühnenhimmel hängt. Ich mag mich in ihre Stimme nicht recht finden. Zu groß sind die Registerunterschiede, zu flach ist die Tiefe. Der eine Spitzenton entschädigt dafür nicht. Ordentlich, wenn auch nicht flattervogelhöhenleicht wie sonst, der Waldvogel von Serena Sáenz.
Die Opernhäuser werden wissen, warum der Ring des Nibelungen nur als Paket zu haben ist. Siegfried allein wäre kaum dauerausverkauft. Die Schwächen des Librettos kann keine noch so vorbildliche Aufführung ausbügeln. 1. Der Titelheld ist eine absurde Mischung aus Märchenheld und Krawallbursche. 2. Frauen sind Mangelware. 3. Die Wotanszenen erreichen allesamt nicht die vorangehenden aus Die Walküre. 4. Die Erweiterung des herkömmlichen Opernpersonals um einen Wurm hat sich nicht wirklich durchgesetzt.
Musikalisch ist Siegfried nicht unheikel. Anders als in Walküre herrscht Motiv-Tuttifrutti. Schwert- und Siegfriedmotiv drängeln sich alle Naselang vor. Erst im Schlussduett weht frische Motiv-Luft. Das rührende Liebesverwirrungs-Motiv ertönt, schon folgt das stolze Siegfriedliebe-Motiv auf dem Fuß, bevor die Sänger mit Reinheitsmotiv (Siegfried-Idyll!) und meistersingerlich kräftigem Liebesbundmotiv auf die Zielgerade einbiegen. Ein Herz habe ich seit je für die düsteren Mime-Alberich-Dialoge im Fafner-Akt. Sie sind faszinierende Ausgeburten des Bösen und Vorboten der Hagen-Monologe in Die Götterdämmerung. Auch die aus dem Nichts kommenden Aktanfänge gehören zur fesselnd fahlen Siegfried-Welt.
Und die mutlose Regie? Eine Gitterrostfläche kippt in Zeitlupe in die Senkrechte (Bühne: Cassiers, Enrico Bagnoli) – es ist erstaunlich, wie gern Regisseure sich immer noch der Chéreau-Ästhetik des 1975er-Rings bedienen. Liebhaber eines öden Kubismus kommen beim Brünnhildenfelsen auf ihre Kosten. Herr Schager turnt auf ihm herum wie eine österreichische Gämse, doch Frau Theorin hat ständig Sorge, dass die Schleppe ihres Gewandes nicht am Felsen hängen bleibt. Starke Einfälle fehlen, die Inszenierung fesselt nirgends (Spielwart: der Belgier Guy Cassiers). Der sicherlich bedeutende Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui fällt mit einer misslungenen Pantomime von fünf knackigen Schwerttänzern auf.
Orchestermäßig gerät der 1. Aufzug am interessantesten. Daniel Barenboim treibt das Geschehen unablässig voran. Alle Energie scheint aus dem Rhythmus des Nibelungenmotivs zu wachsen. Das Orchester schafft eine untergründige Spannung, die Farbe schwankt zwischen düster im schweren Blech (meisterhaft die allgegenwärtige Tuba) und Scherzo-hafter Verknappung im Holz. Lobenswert, dass die Schmiedeszene ohne jedes Stampfen gelingt. Im dritten Aufzug, mehr noch im ohnehin mit Phonstärken gesegneten Schlussduett, lässt Barenboim recht massiv und laut spielen, so dass die Binnenzeichnung verloren geht.
Viel Applaus. Aber zwei Buhs für Theorin, eines – wenn ich richtig gehört habe – für Barenboim.
Hundert11s Kritik des Staatsopern-Siegfried: Wie der Waschbärsuppe essende Kakman aus Bibi & Tina 3
Besonders ärgerlich war die überlange Pause vor dem dritten Aufzug.
LikeGefällt 1 Person
Ging mir ähnlich. Vermutlich sollte der Siegfried geschont werden. Ich hätte eine längere erste und eine kürzere zweite Pause aber vorgezogen.
LikeLike
Wenn dem so wäre, so hat sich das Warten ausgezahlt. Schager war umwerfend im 3. Akt!
LikeGefällt 1 Person
Die Siegfried-Brünnhilde ist die höchste, die Götterdämmerung-Brünnhilde die tiefste, die ist fast schon Mezzo-Bereich. Der dritte Akt in Siegfried ist für eine Brünnhilde unheimlich kräftezehrend. Da muss dann selbst eine Könnerin wie Frau Theorin manchmal schreien anstatt zu singen.
LikeLike