Festtage an der Staatsoper Berlin. Unter der Leitung von Daniel Barenboim spielt die Staatskapelle Berlin den Tscherniakow-Parsifal in einer hörenswerten Besetzung.
Nach Tscherniakows Tristan und Isolde (Premiere 2018) nun also dessen Parsifal (Premiere 2015). Gemeinsamkeiten fallen auf. Rückblenden führen in entbehrungsreiche Kindheiten. Die Heldin kleidet sich in urbanem Mainstream-Chic. Der Mythos ist verblasst und die Gegenwart zeichnet sich durch trashige Modernität aus.
Die Personenführung ist genau. Man beobachte die Gurnemanz‘ epischem Monolog lauschende Kundry (1. Aufzug). Oder Kundry und Parsifal, die sich im 3. Aufzug scheinbar gefunden haben. Reichlich unmotiviert freilich die Deutung der Schlussszene, als Gurnemanz Kundry ersticht (das ist außerdem so neu nicht) oder kurz davor Amfortas und Kundry sich abknutschen.
Man kann zu Andreas Schager verschiedene Meinungen haben. Entweder: Sein Vortrag ist wenig biegsam, die Phrasierung hart, sein Deklamationsstil fantasielos. Oder: Die metallische Klarheit der gut fokussierten Tenorstimme durchdringt jedes Orchester, einige Stellen sind nah an der Perfektion, von kontrollierter Phrasierung, metallisch, verhalten und doch dezidiert männlich. Ich neige heute der zweiten Meinung zu (an der Premiere war ich skeptischer). Nah an der Perfektion ist zum Beispiel die Heilsverkündung Nur eine Waffe taugt. Nur Ausdrucksintensität ist Schagers Sache eher nicht. Doch er ist um inwendigen Ton bemüht, auch wenn das Piano nicht sinnlich blüht (Auch deine Träne ward zum Segenstaue/du weinest, – sieh! es lacht die Aue!). Ja, Tonhöhen vagieren gerne ein bisschen. Doch Schager kann auch lyrisch, Piano und Tiefe haben männliches Metall. Und er spielt unermüdlich, fügt dem keuschen Ritter eine umtriebige Keckheit hinzu, ohne die zur Genüge bekannten – und auch gerne von einigen anglophonen Rollenvertretern bedienten – Rollenklischees zu wiederholen.

Parsifal fällt Klingsor / Foto: Ruth Walz
Nina Stemme ist eine wundervolle Kundry. Das Klangmaterial der Stimme ist immer noch hervorragend. Hinsichtlich des Ausdruckscharakters vermeidet sie alles Hysterische, bleibt beherrscht, beinah unaufgeregt. Souveräner Vortrag geht vor rhetorische Intensivierung. Was nicht mehr nach 20-jähriger klingt (Bemühen um Piano und Attacke, nachlassender Schmelz), wird mehr als wettgemacht durch die reiche, meisterhaft geführte Stimme. Stemme klingt kehlig, die Textdeutlichkeit ist gut, aber nicht mehr. Im Vergleich mit dem in diesen heil’gen Hallen noch sehr lebendigen Geist der Waltraud Meier zieht die Schwedin sich sehr gut aus der Affäre. Darstellerisch bleibt sie verhaltener, doch passt gerade das zur Stimme. Viel eindrucksvoller als im 2. Akt ist ihr Spiel im für sie weitgehend stummen 3. Akt.
Mit Amfortas Lauri Vasar habe ich nach wie vor Probleme. Die Stimmschönheit steht außer Frage und es gelingen tonschöne Passagen (Recht so! habt Dank!), doch der gaumigen, körnigen Stimme fehlen Stetigkeit und Härtung. Die hohen Töne des Monologs im 3. Akt misslingen. Als Mozart-Figaro ist und bleibt er allerdings super. Unglücklich auch, dass die Regie den Amfortas in die Ecke des windeltragenden Zappelphilipps steckte.

Ringelpiez mit Anfassen: Wagners Blumenmädchen / Foto: Ruth Walz
Klingsor Falk Struckmann ist ein alter Wagnerkämpe mit furchteinflößender Stimmkraft, energisch-kantiger Deklamation und in den Akzenten explosiver Tongebung. Und er ist ein suggestiver Darsteller, der als pedantisch-schmieriger Onkel in Wollweste und Filzpantoffeln sein wenig durchschaubares Unwesen treibt. Und der Titurel von Reinhard Hagen beeindruckt mit der brüchigen Autorität eines greisen Königs.
Unübertroffen ist Tscherniakows feine Nase dafür, Bühnenbilder aus einem hintergründigem, aber verblüffend genauen Realismus zu bauen. Man sehe nur auf die trüben Fenster- und Türeinbauten, die das Kapelloktogon zu einem Ort siffiger Trostlosigkeit machen.
Und damit zu René Pape. Im 3. Akt macht ihn Tscherniakow zum tapsenden Tattergreis, was dann der Pracht der resonanten Stimme doch irgendwie zuwiderläuft. Denn dieser Gurnemanz ist nach dem Klingsor-Aufzug unvermittelt ein kleingeistiger Wurzelsepp, der gar nicht mehr mitbekommt, was da gerade an Einverständnis und holdem Wiederfinden zwischen Parsifal und Kundry passiert. Hübsch aber dennoch, wie Pape die nervöse Unruhe vor Nicht so! die heil’ge Quelle selbst spielt. Und damit zum Sänger Pape. Der singt die epischen, von Lyrismus durchtränkten Rückblenden des ersten Akts als klangschön strömende Proklamation. Exemplarisch René Papes Meisterschaft beim Karfreitagszauber: Reichtum und gediegene Schönheit des vibrierenden Bassklangs, bewegende Lebendigkeit der Deklamation, Reife und Überlegenheit des Vortrags wären einen eigenen Artikel wert. Auffallend die Zurückhaltung bei der Deklamation, um die Linie nicht zu zerstören. Als Kritikpunkte seien bei so viel Lob erwähnt: das heftige Ausstellen von Akzenten (dies des Grals Gebiet) samt Eindunkeln der Vokale (Grols) zwecks Zugewinn an Pathos. Doch womöglich lässt sich Ersteres auch unter dem von Wagner geforderten energisch sprechendem Akzent subsumieren. Sei’s drum. Ungewöhnlich die Darstellung nacherlebender Trauer bei er starb – ein Mensch, wie alle! Ein außerordentlicher, ein beinah unübertroffener Gurnemanz.

Düstere Szenerie / Foto: Ruth Walz
Die Gralsritter singen Jun-Sang Han und Dominic Barberi (mit schwarzem, körnigem Bass: Das wähnest du, der doch Alles weiß?), die Knappen Natalia Skrycka (Seht dort die wilde Reiterin!), Sónia Grané, Florian Hoffmann, Linard Vrielink. Die adretten, als vordergründig harmloses Blümchenrudel auftretenden Blumenmädls werden von Elsa Dreisig (deren Sopran man meist heraushört), Adriane Queiroz, Anja Schlosser, Sónia Grané (hört man auch wegen der sehr hellen, blumengleich rankenden Stimme), Narine Yeghiyan und Natalia Skrycka gesungen.
Womöglich wird Daniel Barenboim nicht mehr allzu viele Parsifals dirigieren. Irgendwann geben auch Chefdirigenten auf Lebenszeit den Dirigierstab ab. Am diesjährigen Festtage-Parsifal kann man herummäkeln. Die Gruppenkoordination im Orchester ist weniger zuverlässig als gewohnt, auch im Vorspiel zum ersten Akt (auch innerhalb der Streicher). Insgesamt scheint Barenboims Zugriff lockerer. Dies war auch schon in Tristan und Isolde zu hören. Doch die Staatskapelle Berlin wirft ihr Phrasierungsgenie, ihre flammende Intensität in die Waagschale. Weiche Streicher, eindrucksvolle Posaunen, warme Holzbläser dominieren. Barenboims Sinn für Zusammenhang, für Prozess, für das Atmen der Musik, für das Anfüllen der Details mit leisesten Regungen, für den gebrochenen Ton, der die Partitur durchzieht, dürfte unübertroffen sein. Die Kiesker der Hörner sind dem wunderbaren Langsam- und Leisespielen geschuldet und somit Ausweis besonderen Ausdruckswagnisses (und der Belastung durch das Festtage-Programm).
Waren die Chöre unter Eberhard Friedrich nicht homogener? Parsifal 2008? Naja, vielleicht auch nicht, ist lange her.
Kritiken der vorangegangen Parsifal-Aufführungen bei den Festtagen mit Besprechungen der Inszenierung:
„Festtage 2017 Parsifal Barenboim: Andreas Schager, Anna Larsson Kundry, René Pape Gurnemanz“ (Festtage 2017)
„Kritik Parsifal Staatsoper Festtage Barenboim: Andreas Schager, René Pape, Wolfgang Koch, Waltraud Meier“ (Festtage 2016)
Wunderbare Aufführung mit wunderbaren Sängern! Nina Stemme und Andreas Schager, René Pape und Lauri Vasar, eine Bombenbesetzung! Ich war zu Tränen gerührt. Bravi! Das Konzert mit der Staatskapelle mit Martha Argerich war auch ein Hochgenuss!
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Ich stimme dem Vorkommentator zu. Einfach überwältigend. Nina Stemme ist eine der großen Sängerinnen unserer Generation. Zu Pape braucht man nichts mehr zu sagen.
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War 2 Mal drin. Beide Male hat René Pape „In dieser Waldeck barg ich einsam mich“ statt „barg ich selber mich“ gesungen.
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Meines Wissens existieren beide Varianten. In meinem Textbuch steht zum Beispiel: barg ich einsam mich. In Schotts Libretto von 1877 steht „einsam“.
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Hab ich was verpasst ? Ich gestehe, ich habe den Parsifal nur ein einziges Mal gesehn, nämlich beim Rollendebüt von Rene Pape an der Met. Man verstand auch in der letzten Reihe jedes Wort. Domingo stürmte auf die Bühne und übernahm das Kommando. An wesentlich mehr kann ich mich nicht erinnern. Brauch‘ ich auch nicht.
Im Falstaff von Verdi gibt es übrigens eine ähnliche Textverwirrung am Ende. Es gibt 2 Varianten in der Schlussfuge (Tutto nel mondo e burla). Eine geht so :
La fede in cor gli ciurla, gli ciurla la sua ragion.
Die andere :
Nel suo cervello ciurla sempre la sua ragion.
Die wurde auch hier in der Premiere gesungen, und das in den Lexika fast unauffindbare Wort „ciurlare“ verdeutlichte die Sängerin der Alice durch ein deutliches Drehen ihres Fingers an der Schläfe. Damit war die Sache endlich klar.
Erlösung, wem Erlösung gebührt.
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„Selber“ scheint die gängigere Variante zu sein. Ein schneller Check: Hölle (ein respektabler, aber nicht der beste Gurnemanz der letzten 30 Jahre) singt im BPO-Parsifal unter Barenboim „selber“, Hotter (eine für Hotter eher späte Aufnahme) unter Knappertsbusch auch, Ludwig Weber in Knappertsbuschs 51er-Aufnahme auch, Crass (kantabel, aber etwas dünn) unter Boulez ebenso. Meine Eulenburg-Partitur hat aber „einsam“.
Zum Falstaff: Respekt, gut gesehen und gut gehört. Immerhin war die Alice als Italienerin eine Expertin.
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Hartmut oder Matthias ?
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grazie
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So stürben wir, ohn eingedenk, ewig lassend, ohne End
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ganz uns selbst gegeeeehheben, der Liebe nur zu leeeehhheebeebn
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Ich geh morgen mit meinem Zweitgeborenen in die Deutsche Oper. Der hat zum ersten Mal bei den Simpsons „Ridi, Pagliaccio“ gesehn, und wollte das nu in Natura mitkriegen.
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Andiam ?
incominciamo
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Il teatro e la vita non son la stessa cosa.
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Diese Libretto-Kenntnis!
Ich für meinen Teil hab Italienisch aus Tosca gelernt, inklusive Konditional II. Später kam noch Bohème dazu. Nach 1890 waren die italienischen Opern einfach lebensnäher als bei Verdi.
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Jago ebbe un fazzoletto… ed io un ventaglio!
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Oh, wie will ich triumphieren, wenn sie Euch zum Richtplatz führen !
Und die Hälse schnüren zu, schnüren zu, und die Hälse schnüren zu, schnüren zu.
Hüpfen will ich, lachen springen, und ein Freudenliedchen singen –
denn dann hab‘ ich Ruh‘ vor Euch : denn dann hab‘ ich vor Euch Ruh.
Wie oft hab ich Franz Crass auf 45 upm damit gehört ?
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Der F. Crass auch nicht schlecht mit So lohnt der Tugend kühnen Lauf. Aber sein Holländer war auch sehr gut.
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Si la virtu, tu la chiami bene.
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Schleicht nur säuberlich und leise, Ihr verdammten Haremsmäuse, unser Herz erwischt Euch schon, erwischt euch schon !
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E la regina farebbe grazia ad un cavadevere. Quest’e il bacio di Tosca…
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Basta, Roberti ! heißt es richtig. Obwohl der Scarpia des Ludovic Tezier in Salzburg auf einmal befahl : Nel pozzo
del giardino. – Va, Roberti ! Der schaute etwas irritiert und spielte weiter den Spoletta.
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Ich kann nicht vastaan, was jemand an Parsifal finden kaan. Aaber : Holländer !
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Zum Schluß.
Was ist der Unterschied zwischen Verdi und Wagner ?
Wagner eröffnete ein Festspielhaus zum Ruhme seiner selbst und seiner Opern
Verdi gründete ein Altersheim und ein Krankenhaus, das es heute noch gibt.
https://e-review.it/ferrari-ospedale-verdi-villanova-sull-arda
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Bocca bociata non perde sventura
anzi rinova, come fa la luna
ich fahr noch nach London, um Anna Prohaska als Nannetta zu erleben
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Ah, mit Terfel. Prohaska als Nannetta… da kann man fast von träumen, sicherlich ganz anders als Nadine Sierra
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Sul fil d’un soffio etesio
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Ja, das hat die Einspringerin für die Sierra doch wirklich sehr schön gesungen
wie hieß sie noch ?
Slávka Zámečníková
hat neuerdings ein Engagement in Wien
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