Das ist die neue Götterdämmerung. Das ist der neue Berliner Ring.

Tötet Hagen Siegfried, dann tut er dies in der Sporthalle des Forschungsinstiturs ESCHE während einer Pause beim Betriebssport mit einer Fahnenstange. Der Mythos ist zuende, das Walhall Wotans nur noch eine schlurfende Erinnerung, die Schaffung des neuen Menschen an Ring-Fluch und Hagen-Intrige gescheitert. Es herrscht Jetztzeit, nagelneu die Bestuhlung der vertraut gewordenen ESCHE-Räume. Weggeräumt der DDR-Muff der Siebziger. Der Zuschauer sieht klinisch reinen Stahl und Glas. Wenn noch Gestalten aus der Tiefe des Mythos auftauchen, dann so hager vergreist, so fastnackt wie Alberich (ein barocker Hieronymus oder Chronos) oder stumm wie Wotan, im schon bekannt verlotterten Pensionärslook (und nur noch interessiert an einer netten Tasse Kaffee).

Auch am dritten Festspieltag kappt Regisseur Tscherniakow altvertraut Sehgewohntes. Am eindrücklichsten vielleicht, wenn Siegfried Brünnhilde in eigener Gestalt, nicht in der Gunthers, überwältigt. Was einen Moment des Grauens birgt, da nur Brünnhilde das Offensichtliche nicht zu sehen vermag. Hier, wie auch an andern Stellen, wo Requisiten nur im Gefühl der Protagonisten existieren, lässt Tscherniakow den Zuschauer kurz erschrecken. Existiert der gesamte mythologische Überbau des Rings nur im Gefühl des Zuschauers? Und ganz zum Schluss, wenn Thielemann in den letzten Takten das Orchester wunderbar im Griff hat und die Bühne schwarz und vor allem riesig leer ist, stirbt Brünnhilde, die menschliche Überlebende einer mythischen Katastrophe, gerade nicht. Sie überlebt – und lässt die ESCHE-Welt mit einem Fingerwink in Staub verwehen. Auch das ist Tscherniakows Ring des Nibelungen: Utopie.

Staatsoper Berlin Götterdämmerung Tcherniakov
Fotos bis auf Applaus: Monika Rittershaus

Die präzise gefassten Räume, die Betonhalle mit den Deckenwaben, die Enge des Neon-hellen Korridors, das Halbrund des Hörsaals, tragen den Fortgang der Gibichungen- und Wälsungen-Tragödie auch am heutigen Sonntag. Die Nornenszene, das Duett, die Waltrautenszene, Brünnhildes Überwältigung finden in dem bekannten wand- und mauerlosen Wohngerippe statt, das schon die Wälsungen sowie Mime und Siegfried nicht beherbergt, sondern vielmehr voyeuristisch präsentiert hatte. Ein feiner Wink der Regie: Am Kleiderständer hängen einsam Kleid und gelbe Weste Sieglindes.

Eigentlich bedeutet das ESCHE-Konzept eine alle Lebensbereiche durchdringende Verwissenschaftlichung, in der Mythos und Heroentragödie kein Platz mehr haben. Revoltiert das ESCHE-Institut nicht gegen alles, was Wagner ist? Irgendwo hier liegt der fesselnde Kern dieser Neuproduktion: Revoltieren gegen Wagner mit Wagners eigenen Mitteln. Und gerade dadurch, dass die Inszenierung ihre Regie-Idee nicht bis ins kleinste Detail durchdekliniert, werden Freiräume frei: für die suggestive Macht der Bilder und für die darstellerische Verve der Bühnenakteure. Und für Wagner.

Prima wieder die Schlagkraft zahlreicher Einzelszenen bei fantasievoller Personenführung. Etwa, wenn die Nornen Brünnhildes Wohnung als Kaffeekränzchen unheilvoller Greisinnen bevölkern, und weder wir noch Brünnhilde wissen, ob diese Frauen der gruseligen Realität oder einer noch gruseligeren Irrealität angehört.

Mit anderen Worten, diese Inszenierung ist intelligent, kenntnisreich, streng, durchdacht und wird Wagners Vielschichtigkeit glänzend gerecht.

Ring des Nibelungen Staatsoper Berlin Tcherniakov

Andreas Schager ist als emphatischer Siegfried eineinhalb Akte lang hysterisch verknallt in Gutrune. Seine Tenortugenden sind die aus Siegfried, er singt ohne Anstrengung, flüssig, gewinnend im Ton, der Klang ist voller Enthusiasmus, und als Sterbender hat er inwendigen Ton für die Anrufung Brünnhildes. Für Anja Kampe geht so einiges im Duett, in der Verschwörungsszene und im Schlussgesang über die Stimme und die Kräfte. Diese Kritik ist unter der Prämisse zu sehen, dass ich die Premiere in einem der ersten Wagnerhäuser des letzten Vierteljahrhunderts mit einem der ersten Wagnerdirigenten des letzten Vierteljahrhunderts höre.

Kampe hat Leuchtkraft und Wärme, aber in der hohen Lage kaum siegreiche Kraft. Insgesamt ist das zu wenig. Klangschön und eloquent werden aber die ruhigen Teile des Schlussmonologs gesungen. Die mitreißende Walküre-Brünnhilde kann sie weder in Siegfried noch in Götterdämmerung wiederholen.

Der Gunther (Lauri Vasar, hager, tiefblauer Anzug, involvierter, aber wolliger Bariton) ist auch bei Tscherniakow der Loser, mit dem Mitleid zu haben schwer fällt. Heute allerdings sinkt er nicht von einem Streiche Hagens tot darnieder, sondern attackiert vor der Leiche Siegfrieds sogar den Stiefbruder. Hagen indes gewinnt durch die stimmmächtige Basseskraft der Mannenrufe – wuchtig und sonor – finstere Autorität (Mika Kares, Glatze, Clan-Kinnbart). Was Kares noch abgeht, wird deutlich in der Szene mit Alberich. Denn den singt Johannes Martin Kränzle wortplastisch, eindringlich nuanciert, überaus silbengenau und deklamatorisch intelligent.

Götterdämmerung Anja Kampe Violeta Urmana Thielemann

Die Gutrune der Mandy Fredrich (Knallerkostüm) exponiert eine aufgedrehte, sozusagen liebesbedürftige Lustigkeit (gefällt mir gut), stimmlich wiegt Fredrich etwas leicht. Gediegen klangvoll reüssiert Violeta Urmana (im blauen Trenchcoat, der Quasi-Uniform der Walküren) als Waltraute mit einer fesselnden Erzählung, und die drei Nornen Noa Beinart, Kristina Stanek und Anna Samuil liefern jenen Weltenklatsch, von dem Thomas Mann sprach. Das Stelldichein der Rheintöchter mit Siegfried (wieder im Stresslabor, aber die Rheintöchter sind viel netter als bei Alberich) gelingt vokal glänzend (Evelin Novak, Natalia Skrycka, Anna Lapkovskaja).

Dann ist da noch Christian Thielemann.

Der Dirigent hat für die Nornenszene viel Zeit, realisiert ansonsten mit der Staatskapelle weiter sein Klangideal. Es ist ein Abend der orchestralen Fülle. Ich höre unendlich pointierte, ausdrucksvolle Piani und generell eine meisterhafte Präzision der Darstellung. Ganz Espressivo-Ernst die Streicher, ganz nach innen gerichtete Wärme die Bläser. Aus dem Graben kommt ein bannendes Tutti, es ist eine massiv und dicht die Klanggruppen verwebende Götterdämmerung. Insbesondere in Liebesduett, Rheinfahrt, Trauermarsch und Schlussmonolog lässt Thielemann das Orchester in zupackender Grandeur aufrauschen. Das Walhallmotiv am Schluss ruft eine selten gehörte Gravitas puren Klangs auf. Das höre ich nicht alle Tage. Wie am Donnerstag ist mir Thielemann bei aller prachtvollen Kompaktheit dieser Götterdämmerung des öfteren einige Grade zu laut. Nur als Nebenbemerkung und ohne jede Absicht, zwei unterschiedliche Dirigenten aufzurechnen: Trauermarsch und Aktschlüsse habe ich packender von Barenboim 2013 und 2019 im Ohr.

Christian Thielemann Ring des Nibelungen Berlin

Ganz zum Schluss, wenn Brünnhilde auf nachtschwarzer Bühne den ESCHE-Alptraum beendet, stehen da jene Schlussworte Brünnhildes, die Wagner 1856 dichtete und bei der Komposition 1874 verwarf: Trauernder Liebe / tiefstes Leiden / schloss die Augen mir auf: / enden sah ich die Welt. Auch hier also eine versteckte Huldigung Tscherniakows an jenen Experimentator Wagner, der bis zum letzten Augenblick offen fürs Ausprobieren war. Gerade die Mythos-Ferne dieser letzten Ring-Augenblicke ist auch ein Verdienst dieser Regiearbeit.

Viel Beifall am Ende der Götterdämmerung, aber auch Kritik, so Buhs für Kampe, einer tut sich mit einem Buh für Thielemann hervor (vermutlich der gleiche wie bei Walküre). Ovationen für Thielemann und die Staatskapelle, heftige, anhaltende Buhs für das Regieteam, das sich überhaupt zum ersten Mal zeigt und sich schnell wieder zurückzieht.

Götterdämmerung Christian Thielemann Andreas Schager Berlin Anja Kampe
Berlin Ring des Nibelungen Michael Volle, Anja Kampe, Christian Thielemann, Andreas Schager
Götterdämmerung Unter den Linden Staatsoper Berlin Tcherniakov Premiere, Vida Miknevičiūtė, Alexandra Ionis, Evelin Novak, Mandy Fredrich

Weitere Premierenkritik zur Berliner Götterdämmerung: „Bilderbogen alles Menschlichen“ (Clemens Haustein), „Um Freiheit“ (Matthias Nöther, Bericht Morgenpost), „Willkürlich und ärmlich“ (Kai Luehrs-Kaiser), „Buhorkan“ (André Sokolowski), „Labortypisch hässlich“ (Udo Badelt), „Inhaltliche Leere“ (Andreas Göbel, Bericht auf RBB24)