Ich bin gerade öfters bei dem Geiger Frank Peter Zimmermann, sogar, wenn etwas Russisches gespielt wird. Wie oft hat Zimmermann das Violinkonzert von Strawinsky, der bei seinem Tod 1971 US-Bürger war, schon gespielt? 100 Mal?
Konzertbeginn in der Philharmonie ist 16 Uhr. Das RSB spielt im Großen Saal. Daußen beginnt die Dämmerung, ist der Potsdamer Platz klamm und das Kulturforum windig.
Was fällt einem auf die Schnelle zu Frank Peter Zimmermann ein, wenn die Zirkuspolka von Strawinsky vorbei ist und es nur noch Augenblicke bis zum Violinkonzert sind? Nüchternheit und Eleganz. Leidenschaft und Akribie. Dazu die leicht gedrungene Erscheinung fast aller Weltklassegeiger. Die Lederherrenslipper. Dann spielt er.
Das letzte warme Wochenende in Berlin. Am Sonntag schnell noch im Langer See gebadet, nach Hause geeilt, erste Hochrechnung geschaut, dann gemütlich zum DSO in die Philharmonie getingelt. Vorher gab’s am Samstag zu den Berliner Philharmonikern.
Die präsentieren ein Programm nach dem bewährten Uffkosi-Konzept: Ouvertüre, Konzert, Sinfonie. Zuerst von Rimsky-Korsakow die seit der Tscherniakow-Produktion der Staatsoper vertraute Zarenbraut-Ouvertüre mit ihrer überschwänglichen Tutti-Koketterie. Dann kommt ein Konzert, das von den kaum gespielten, so gut wie unbekannten Konzerten fast das größte scheint. Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 1 ist eine unfassbar imponierende Kostbarkeit. Und da kommt schon der Solist, großgewachsen, soignierte Erscheinung, nicht mehr ganz jung. Die Eröffnung tönt wie Schumann (nur viel schwieriger).
Zwischen Igor und Strawinsky passt immer noch ein Violinkonzert. Oder ein Frühlingsopfer. Les Siècles aus Paris spielen in der Philharmonie Strawinskys burschikoses, kompliziertes Violinkonzert. Solistin ist Isabelle Faust. Schwierig zu hören ist dieses Konzert, weil es so verflixt antiaffektiv und gleichzeitig bestechend klug ist. Dann die Enttäuschung: Kopfsatz (Toccata) und Finale (Capriccio) schnurren ohne Überraschung in die Mikrofone. François-Xavier Roth fällt nicht viel ein – und Faust auch nicht. Mein Problem mit Les Siècles: Man hört, dass die Franzosen wissen, wie gut sie klingen. Aria I wird dahingegen von Isabelle Faust beherrscht. Noch mehr beherrscht durch Isabelle Faust wird nur Aria II – durch unaufdringlich intime dynamische Beleuchtung und durch ein heiser singendes Vibrato. Und durch einen Ton von vorbehaltloser Distinktion. Eine unendlich süffige, unendlich betörende Affektstudie. Zauberhaft. Ich höre das Konzert auf Deutschlandfunk.
Hallo Musikfest! Was wird gespielt 2021? Strawinsky, vor allem der späte. Wobei Seitenstränge zu Barock und zeitgenössischer Musik führen. Heuer ist die mediale Einbettung wirklich üppig. Streams in der Concert Hall, Radiokonzerte auf DLF und ein On-Demand-Dienst auf der eigenen Seite sorgen für digitales Dabeisein auch ohne Anwesenheit. So etwas nehme ich immer gerne in Anspruch. Und ähnlich wie 2020 gelingt in der Corona-Ausgabe Nr. 2 des Musikfests eine aufregend straff programmierte Festivalausgabe.
Freilich kocht auch das Musikfest nur mit Wasser und kauft wie anderswo die tourenden Orchester mitsamt Programm ein, das dann eben auch mal von der Stange kommt. So kann man den einen oder anderen der hiesigen Festivalbeiträge auch identisch in London, Hamburg oder Luzern hören. Präziser gastieren die kleineren Ensembles. Das Ensemble Musikfabrik aus Köln präsentiert seine zwei Sonntagskonzerte (Cleare, Poppe) eben nur in Berlin.
Benjamin, Mahler Chamber und die Pianistin Stefanovich
Tschüss Lockdown, benvenuti Publikumskonzerte? Ja. Vier Wochen vor Saisonende sieht alles nach Li-La-Lockerung aus. Klar ist aber auch: Livekonzerte im pickepackevollem Saal wird es noch eine Weile nicht geben. Apropos Konzerte. Ganz so schlecht war die musikalische Grundversorgung in Berlin im Wonnemonat Mai auch ohne Publikum nicht.
Irgendwie fühlt sich die ganze Streaming-Chose an, als hätte es sie so schon immer gegeben. Lang, lang ist es her, da man Schulter an Schulter in Block G saß und Pandemie ein Wort aus der älteren Geschichte war. Andererseits, ertappt man sich nicht dabei, klammheimlich ganz froh zu sein, nicht im pickepackevollen Konzertsaal zu sitzen? Schwer zu sagen.
Bei den Philharmonikern goutiert man weiterhin Riesenwerke. Am Kopfhörer steige ich bei Bruckners 9. (mit Mehta, immerhin einem der aufregendsten Brucknerdirigenten) beim 2. Thema aus. Die Neunte ist mir zur Zeit zu viel Andacht, zu viel Jenseits. Auch Messiaens pathetisches Toten-Epos Et exspecto resurrectionem mortuorum – keine Minute reingehört – fungiert da als astreiner Stimmungskiller. Aber da mag jeder Hörer anders ticken.
Neues gibt es beim RSB. Da startet am Sonntag eine Aufführungsserie, sechsteilig, Strawinsky gewidmet, vollständig gesendet via Radiokonzert. внимание, Achtung!, hier spricht Strawinsky, und der spricht die Sprache der Reduktion. Zumindest im ersten Konzert. Selten bis Nie-Gehörtes des übergroßen Russen erklingt, gleich zu Beginn die Acht instrumentalen Miniaturen für fünfzehn Spieler (1963), bei denen ich das Gefühl habe, ich höre Musik aus dem Reinraum, so ostentativ antiromantisch tönt das. Und, o Wunder, gerade dadurch rührt sie. In die gleiche Kategorie hüftschmal proportionierter Meisterwerke gehört der quirlige Pas de deux: Blauvogel aus Tschaikowskys Dornröschen. Das ist großartig indirekte Musik von karger Buntheit. Teilweise ein Upcycling-Projekt von Film-Ideen für Hollywood stellt die bezaubernde Ode (1943) dar, bei der das RSB exemplarisch zeigt, wie sich distanzierter Spätstil unmittelbar in Gefühl transformieren lässt.
Bitter, aber wahr: Corona macht’s möglich, nämlich derart aufregende Programme.
Dann ist der allerbeste Teil des Abends aber auch schon vorbei. Orpheus (1947) ist Ballettmusik in der Art des Apollon. Die klingt ähnlich dunstfrei, aber nicht so phantastisch konzentriert wie die zuvor gehörten Stücke. Das Puritanisch-Säuerliche, das Antiken-Werken der Neoklassizisten gerne mal anhaftet, hört man auch bei Orpheus. Abschließend Juri Faliks Elegische Musik, deren Hauptreiz die vier imposanten Posaunen ausmachen. Schade, dass der Rest nicht mehr bietet als x-beliebigen, Streicher-umwobenen Trauerflor à la Schostakowitsch. Gespielt wird live aus dem Großen Sendesaal des Rundfunkhauses.
Kein Licht am Ende des Corona-Tunnels. Das deutschlandweit beachtete Senats-Pilotprojekt wurde ebenso fix wieder abgebrochen, wie es auf die Beine gestellt wurde. Alles bleibt beim Alten. Deutschland steckt im Dauer-Lockdown fest, und so liefern Orchester und Ensembles frischproduzierte Musik weiter per Livestream, Radiokonzert, Zoom-Meeting – oder erfinden neue Formate wie das RSB, das im März digital durch „Kinderzimmer, Klassenzimmer, Wohnzimmer“ tourte.
Corona ist ein tragischer Mist, aber alles ist besser als die Tristesse von Stillstand und Nichtstun. Und so klingt Corona-Berlin im April.
Das Jahresende 2017 naht mit Riesenschritten, schneelos und – in Berlin – fast bibberfrei. Statt Frost und Schnee fliegt jedoch die US-amerikanische Ausnahmesängerin Joyce DiDonato ein, wahrlich keine schlechte Alternative. DiDonato ist also die
Ein hörenswertes, beziehungsreiches Programm der Staatskapelle Berlin.
Schönbergs Kammersinfonie Nr. 2 op. 38 zählt allmählich zu den gespielten, verbindlichen Werken, immerhin rund 80 Jahre nach Fertigstellung und Erstaufführung. Sei’s drum. Beethovens 9. brauchte kaum weniger lange. Wie diese hat Schönbergs op. 38 die Fülle der Einfälle und die schroffe Ausdrucksgewalt. Heras-Casado spielt das späte Werk als das jung gebliebene Hauptwerk, das sie ist. Anklänge an Werke anderer Komponisten wirken als magische Echos.
In Flötenstellen (Claudia Stein) hört man das Schimmern von Debussys Klarheit, im zweiten Satz Mahlers Siebte, im fantastischen Molto Adagio – fast schauerlich – Wagner (3. Parsifalvorspiel, in der Hornfanfare gar so etwas wie das Urbild eines Leitmotives aus dem Ring). Pablo Heras-Casado bietet das Werk in großer Form und lebhaft plastischer Wiedergabe, verdichtet im Klang und gestrafft in Dramaturgie und Tempo (dieses ist zügig, doch nie eilend).
Die Russen Rachmaninow und Strawinsky (Russen in den Grenzen vom 31.12. 1938) durch die ukrainischen Musiker Prokofjew und Reinhold Glière zu ersetzen wäre engstirnige Barbarei gewesen, aber es kommt einem immerhin in den Sinn, während man nach einer kurzen Pause gedankenverloren im Programm blättert.
Sergej Wasiliewitsch Rachmaninow zeigt in den Symphonischen Tänzen eine pragmatische Einstellung gegenüber der Notwendigkeit schöner Stellen. Es fällt schwer, der Anziehungskraft des Hauptthemas zu widerstehen. Es besitzt die überlegte Wirkung einer Bild-Schlagzeile (Der Nachsatz ist dann nicht mehr ganz so gut).
Strawinskys Suiten Nr. 1 und 2. – sehr schön. Das ist Musik, die keine Kommunikationsbarrieren aufbaut. Sie huldigt hier einem angeschrägten Dadaismus, dort einem zärtlichen Kubismus. Das Ganze kommt mit einer Bombeninstrumentation. Das bunte, disziplinierte Orchester wiegt noch jeden Bruckner auf.
Die deutsche Hauptstadt friert, aber nicht übermäßig. Das Kraftwerk Wilmersdorf pustet Dampf in den Berliner Himmel, aber nicht übermäßig. Wenn etwas übermäßig war in Berlin, so die Freude auf den Dienstagabend. Die Wiener Philharmoniker kommen.
Ein gebrechlicher Georges Prêtre. Formidabel und lässig sitzender Anzug. Einstecktuch. Er winkt beim Schlussapplaus heiter ins Publikum, entweder zum Abschied oder um zu bedeuten, dass keine Zugabe mehr kommt. Oder weil es ihm so gut gefallen hat.
Ein So-so-Konzert. Für das erste „So“ stehen ein rundes Finale der Siebten und ein kecker Feuervogel. Für das zweite „So“ stehen ein langweiliges zweites Satzerl von Beethoven und ein Bolero, der sich, na, ziemlich in die Länge zog.