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Es ist erstaunlich, wie weit an diesem Abend in der Staatsoper die Erinnerungen zurückreichen. Als die heute 78-jährige Martha Argerich ihre erste Platte aufnimmt, 1960, hatte für Horowitz der zweite Teil seiner öffentlichen Karriere noch gar nicht begonnen, war Karajan drüben in der Philharmonie (bzw. bis 1963 im Titania-Palast) erst seit vier Jahren Nachfolger Furtwänglers.

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60 Jahre ist das her.

Doch zurück in den Großen Saal der Staatsoper und zu Ravels Klavierkonzert G-Dur, wo Martha Argerich wie eh und je improvisatorische Differenziertheit und Anschlagsinstinkt unter einen Hut bringt. Argerich spielt das Konzert mit jener Mischung aus aufreizend lässig und hypergenau, die ganz ihr gehört. Schon in der Exposition des 1. Satzes scheint sie der Höhe des Geschehens immer den Bruchteil einer Sekunde voraus, mühelos temposchwebend macht sie das und ohne Ende anschlagskultiviert – wenngleich ihr Akkordspiel nicht mehr so messerscharf und schlackenlos wie einst erscheint, ihr Anschlag nicht mehr in jedem Moment über jene kolibriartige Präzision verfügt. Dennoch: die plötzlichen Ausflüge der Rechten in den Diskant, die unerlernbare Plastizität der Triller macht ihr vermutlich immer noch kein Pianist der Welt streitig.

Mehta lässt es fließen, das Tempo ist keinesfalls behäbig, er tut genau das Richtige, lässt die Staatskapellisten und Argerich zusammenfinden.

Die gefährliche Einfachheit des zweiten Satzes (Adagio assai) ist ja so teuflisch, dass es einem passieren kann, den mittleren Satz an einem x-beliebigen Vortragsabend einer Musikhochschule zu hören und verlässlicher hingerissen zu sein als bei einem „regulären“ Klavierabend. Doch Martha Argerich hat für die irreal schwebenden Girlanden des zweiten Teils auch noch die absolute Sicherheit ihres rhythmischen Gefühls. Sie schafft es, die Spannung vor dem magischen Einsetzen der Holzbläser ins Unermessliche steigen zu lassen.

Die Pianistin trägt schmucklos schwarzes Kleid (der lustige Buchstaben-Rock von letztem Jahr ist leider zu Haus geblieben), verlässt das Podium langsamen Schritts, die Hüfte scheint Probleme zu bereiten, die Hand stützt sich kurz am Flügel ab, in grauen Wellen, denkbar uneitel, ergießt sich das Haar, noch sichtbar ist die charakteristische Delle, wo es vor kurzem noch zusammengebunden war.

Gibt es einen Kandidaten für das erstaunlichste, mitreißendste, ergreifendste, kurzum gelungenste Klavierkonzert nach Beethovens Nr. 5? Dieses vielleicht.

1967 nahm Argerich mit Abbado ebendieses Ravelkonzert und Prokofjews 3. Klavierkonzert auf. Die Aufnahme ist berühmt. Prokofjews Drittes spielte Argerich genau vor einem Jahr mit der Staatskapelle. Da schließen sich Kreise, Berliner und auch andere.

La Valse von Ravel zuvor gelingt auf ähnlich hohem Niveau, Bläser und Streicher mischen sich wohlig-wonnig zu tänzerisch beschwingtem Fließen, dem Sacre du Printemps nach der Pause fehlte jeder rhythmische Biss.


Weitere Argerich-Kritik: Geheimnisvolle Anschlagskultur, beseeltes Farbenspiel (Sybill Mahlke)