Irgendwie fühlt sich die ganze Streaming-Chose an, als hätte es sie so schon immer gegeben. Lang, lang ist es her, da man Schulter an Schulter in Block G saß und Pandemie ein Wort aus der älteren Geschichte war. Andererseits, ertappt man sich nicht dabei, klammheimlich ganz froh zu sein, nicht im pickepackevollen Konzertsaal zu sitzen? Schwer zu sagen.

Bei den Philharmonikern goutiert man weiterhin Riesenwerke. Am Kopfhörer steige ich bei Bruckners 9. (mit Mehta, immerhin einem der aufregendsten Brucknerdirigenten) beim 2. Thema aus. Die Neunte ist mir zur Zeit zu viel Andacht, zu viel Jenseits. Auch Messiaens pathetisches Toten-Epos Et exspecto resurrectionem mortuorum – keine Minute reingehört – fungiert da als astreiner Stimmungskiller. Aber da mag jeder Hörer anders ticken.

Foto: Berliner Philharmoniker / Digital Concert Hall

Neues gibt es beim RSB. Da startet am Sonntag eine Aufführungsserie, sechsteilig, Strawinsky gewidmet, vollständig gesendet via Radiokonzert. внимание, Achtung!, hier spricht Strawinsky, und der spricht die Sprache der Reduktion. Zumindest im ersten Konzert. Selten bis Nie-Gehörtes des übergroßen Russen erklingt, gleich zu Beginn die Acht instrumentalen Miniaturen für fünfzehn Spieler (1963), bei denen ich das Gefühl habe, ich höre Musik aus dem Reinraum, so ostentativ antiromantisch tönt das. Und, o Wunder, gerade dadurch rührt sie. In die gleiche Kategorie hüftschmal proportionierter Meisterwerke gehört der quirlige Pas de deux: Blauvogel aus Tschaikowskys Dornröschen. Das ist großartig indirekte Musik von karger Buntheit. Teilweise ein Upcycling-Projekt von Film-Ideen für Hollywood stellt die bezaubernde Ode (1943) dar, bei der das RSB exemplarisch zeigt, wie sich distanzierter Spätstil unmittelbar in Gefühl transformieren lässt.

Bitter, aber wahr: Corona macht’s möglich, nämlich derart aufregende Programme.

Dann ist der allerbeste Teil des Abends aber auch schon vorbei. Orpheus (1947) ist Ballettmusik in der Art des Apollon. Die klingt ähnlich dunstfrei, aber nicht so phantastisch konzentriert wie die zuvor gehörten Stücke. Das Puritanisch-Säuerliche, das Antiken-Werken der Neoklassizisten gerne mal anhaftet, hört man auch bei Orpheus. Abschließend Juri Faliks Elegische Musik, deren Hauptreiz die vier imposanten Posaunen ausmachen. Schade, dass der Rest nicht mehr bietet als x-beliebigen, Streicher-umwobenen Trauerflor à la Schostakowitsch. Gespielt wird live aus dem Großen Sendesaal des Rundfunkhauses.

So schön’s auch ist mit Livestream, mir reicht’s im Radiokonzert. Da gibt es keine Ablenkung, ich begutachte nicht 50 Mal die tiefer gewordenen Falten im Gesicht des Dirigenten, drösele nicht minutenlang das Orchester in Stamm- und Aushilfskräfte auf (schon wieder der Terwilliger am Horn…). Nichts außer die Musik, außer man checkt nebenher Zwischenstände auf kicker.de, aber das ist dann eine andere Sache.

Am Dienstag livestreamt Spectrum Concerts einen Tanejew-Abend. Da mache sogar ich mit, der gemeinhin ein Kammermusik-Muffel ist. Schon komisch, als Student war ich mit so ziemlich jedem Streichquartett zwischen Haydn und Bartók vertraut. Nun also Sergej Tanejew. Wunderbar, wie das heute Abend funktioniert. Drei Werke werden gespielt. Die viersätzige a-Moll-Violinsonate (1911) zeigt sich von knapper, intimer Meisterschaft. Ich höre klassische Klarheit und temperamentvoll durchbrochene Arbeit. Dazu kommt von Boris Brovtsyn (Violine) eine kantabel verschlankte Darstellung, und aufregend, wie konsequent Eldar Nebolsin am Flügel insbesondere die mittleren und unteren Lautstärkegrade dynamisch ausdifferenziert.

Foto: Livestream Spectrum Concerts / takt1.de

Ebener Melodiefluss scheint für den späten Sergej Tanejew (1856-1915) repräsentativ zu sein, wie auch das Streichtrio Es-Dur (auch von 1911) zeigt. Hier stoßen Gareth Lubbe (präsente Bratsche) und Alexey Stadler (wendiges Cello) zu Brovtsyn. Das mit Entspanntheit, Freiheit und nie nachlassender Konzentration musizierte Adagio scheint hier das Zentrum. Die Tempi werden nie hektisch gestaltet. Auch das E-Dur-Klavierquartett (1906) ist Futter für neugierige Ohren, wandelt im Vergleich zu den vorangegangenen Werken allerdings auf hörbar spätromantischen Pfaden. Wenn man einen gemeinsamen Interpretationszugang der Spectrum-Musiker benennen kann, so ist es vielleicht das schlanke Zusammenspiel, das ein gelöstes Zusammen-Kommen gestattet und Vibrato-Freiheiten und übergroße Espressivo-Gesten ebenso scheut wie Detailaffektationen – zum Wohle der Stück-Interpretation. Ein Konzert, das im Gedächtnis bleibt. Der Ort des Live-Geschehens ist übrigens das Charlottenburger MetaHaus, man spielt vor geweißter Backsteinwand und Yves-Klein-blauem Streiflicht.