Siobhán Stagg im Pierre Boulez Saal mit Französischem.
Auf die sechs Duparc-Lieder habe ich mich gefreut.
Duparc erkrankte mit 37 und hörte mehr oder minder auf zu komponieren. Gefühl, Melodie, Ausdruck, jede seiner mélodies verdient genauestes Hineinhören. Das frühe, mit Schubert’scher Heftigkeit einsetzende Le Manoir de Rosemonde zeigt raffiniert – fast als Inbegriff der Romantik – das unstillbare Leiden an der Welt. Melodisch reizvoll die Romanze Chanson triste, deren Liebestraum-Ton die Australierin mit intimer Zurückhaltung trifft. Extase feiert mit seiner fein ausschwingenden Melodie so verhalten als möglich die Gegenwart des Glücks. Staggs Sopran hält hier den Ausdruck berückend in der Schwebe, vermittelt etwas von der innig weltabgewandten, ganz Duparc zugehörigen Atmosphäre (kleines Intonations-Ding bei der zweiten Sopranspitze, ganz cool nebenbei korrigiert).
Nach dem Konzert
Ihr Sopran, lyrisch, spezifisch timbriert, beweglich, tönt inwendig, intim, faszinierend belegt – französische Kolleginnen wie Devieilhe oder Gens singen klarer und nuancieren feiner. Dafür hat Stagg die schöneren Linien – und mehr Espressivo.
Irgendwie fühlt sich die ganze Streaming-Chose an, als hätte es sie so schon immer gegeben. Lang, lang ist es her, da man Schulter an Schulter in Block G saß und Pandemie ein Wort aus der älteren Geschichte war. Andererseits, ertappt man sich nicht dabei, klammheimlich ganz froh zu sein, nicht im pickepackevollen Konzertsaal zu sitzen? Schwer zu sagen.
Bei den Philharmonikern goutiert man weiterhin Riesenwerke. Am Kopfhörer steige ich bei Bruckners 9. (mit Mehta, immerhin einem der aufregendsten Brucknerdirigenten) beim 2. Thema aus. Die Neunte ist mir zur Zeit zu viel Andacht, zu viel Jenseits. Auch Messiaens pathetisches Toten-Epos Et exspecto resurrectionem mortuorum – keine Minute reingehört – fungiert da als astreiner Stimmungskiller. Aber da mag jeder Hörer anders ticken.
Neues gibt es beim RSB. Da startet am Sonntag eine Aufführungsserie, sechsteilig, Strawinsky gewidmet, vollständig gesendet via Radiokonzert. внимание, Achtung!, hier spricht Strawinsky, und der spricht die Sprache der Reduktion. Zumindest im ersten Konzert. Selten bis Nie-Gehörtes des übergroßen Russen erklingt, gleich zu Beginn die Acht instrumentalen Miniaturen für fünfzehn Spieler (1963), bei denen ich das Gefühl habe, ich höre Musik aus dem Reinraum, so ostentativ antiromantisch tönt das. Und, o Wunder, gerade dadurch rührt sie. In die gleiche Kategorie hüftschmal proportionierter Meisterwerke gehört der quirlige Pas de deux: Blauvogel aus Tschaikowskys Dornröschen. Das ist großartig indirekte Musik von karger Buntheit. Teilweise ein Upcycling-Projekt von Film-Ideen für Hollywood stellt die bezaubernde Ode (1943) dar, bei der das RSB exemplarisch zeigt, wie sich distanzierter Spätstil unmittelbar in Gefühl transformieren lässt.
Bitter, aber wahr: Corona macht’s möglich, nämlich derart aufregende Programme.
Dann ist der allerbeste Teil des Abends aber auch schon vorbei. Orpheus (1947) ist Ballettmusik in der Art des Apollon. Die klingt ähnlich dunstfrei, aber nicht so phantastisch konzentriert wie die zuvor gehörten Stücke. Das Puritanisch-Säuerliche, das Antiken-Werken der Neoklassizisten gerne mal anhaftet, hört man auch bei Orpheus. Abschließend Juri Faliks Elegische Musik, deren Hauptreiz die vier imposanten Posaunen ausmachen. Schade, dass der Rest nicht mehr bietet als x-beliebigen, Streicher-umwobenen Trauerflor à la Schostakowitsch. Gespielt wird live aus dem Großen Sendesaal des Rundfunkhauses.
Wir alle sind Bruckner-Fans. Ich, du, Sie, jeder. Meine Frau nicht. Hat noch nie Bruckner gehört.
Die harmonische Strategie der Fünf Motetten a Capella klingt ein bissl harmlos – oder nazarenisch. Aber die Stücke machen besonderen Spaß. Im 3. Stück singen die hohen Tenöre die absteigenden Sekundstufen (kratz, kratz, waren das Sekunden?) des abschließenden Halleluja wie ein Gute-Nachtlied. Marek Janowski leitet lebendig, fast unruhig akzentuiert. Der Rundfunkchor singt. Die hohen Soprane singen makellos, mit einer Note fröhlicher Aggressivität. Die Bässe gut gelaunt und selbstbewusst. Wer kann mir sagen, ob diese Brucknermotetten naive Hochromantik oder raffinierter Historismus sind?
Musikfest Berlin 2008 London Symphony Orchestra Daniel Harding Boulez Messiaen Bruckner Sinfonie Nr. 4
Zwei Tage nach dem Concertgebouworkest aus Amsterdam kam das London Symphony Orchestra unter Daniel Harding in die Berliner Philharmonie. Daniel Harding ist jung, blond, schlaksig und pflegt einen ähnlich energischen Dirigierstil wie Gustavo Dudamel. Das London Symphony Orchestra bestätigte seinen Ruf, nicht das weltbeste Orchester, aber eines der fast weltbesten zu sein. Daniel Harding dirigierte Werke von Boulez, Messiaen und von Anton Bruckner, von letzterem die 4. Sinfonie. Man kennt Bruckner: es ist lang, und hört nicht auf. Harding meinte es besonders ernst mit der Länge und wählte die Version der 4. Sinfonie von 1874, die nun wirklich sehr lang ist und auch durch das enorme Tempo, das Daniel Harding vorlegte, nicht kürzer wurde. Aber es gab ja noch die Streicher. Die Streicher waren so packend und sensibel bei der Sache, dass man anfing zu glauben, die vielgeschmähte stiff upper lip käme doch eher aus Berlin als aus England. Wie Dudamel vor einem Jahr mit Beethoven hatte Harding mit Bruckner arge Probleme, was den langsamen Satz anging, den Harding mit einer fast London-haft zu nennender Hastigkeit zuerst außer Puste brachte, dann zu heftigem Japsen nötigte und somit zu guter Letzt den Garaus machte. Der Solohornist spielte im Scherzo phänomenal. Überhaupt das Spiel der Blechbläser: gepflegt, kontrolliert, wie englischer Rasen, dazu aber noch mit einer hübsch durchtriebenen Kultiviertheit. Die Streicher hätten mehr Temperament vertragen können.