Ich bin gerade öfters bei dem Geiger Frank Peter Zimmermann, sogar, wenn etwas Russisches gespielt wird. Wie oft hat Zimmermann das Violinkonzert von Strawinsky, der bei seinem Tod 1971 US-Bürger war, schon gespielt? 100 Mal?
Konzertbeginn in der Philharmonie ist 16 Uhr. Das RSB spielt im Großen Saal. Daußen beginnt die Dämmerung, ist der Potsdamer Platz klamm und das Kulturforum windig.
Was fällt einem auf die Schnelle zu Frank Peter Zimmermann ein, wenn die Zirkuspolka von Strawinsky vorbei ist und es nur noch Augenblicke bis zum Violinkonzert sind? Nüchternheit und Eleganz. Leidenschaft und Akribie. Dazu die leicht gedrungene Erscheinung fast aller Weltklassegeiger. Die Lederherrenslipper. Dann spielt er.
Das RSB-Konzert (u.a. Rubinsteins 2. Cellokonzert mit Alban Gerhardt) lasse ich mit Bedauern aus. Mein Interesse an russischer Seele ist aktuell eher gering, von daher нет Чайковского, нет Шостаковича, Tschaikowsky, Schostakowitsch, Strawinsky etc. gehen gerade irgendwie nicht.
Die zwei sehr interessanten DSO-Konzerte hörte ich auf DLF nach.
Das Rundfunk-Sinfonieorchester, das nicht 75 ist wie das DSO, sondern 96 (gegründet im Stresemann-Berlin 1925), spielt ein langes, nicht einfaches Konzert. Ich höre Spätwerke von Berg und Tschaikowsky sowie eine Uraufführung der in England lebenden Russin Firssowa. Das Thema heißt Tod und Nacht – was das RSB beschönigend in „Spirale des Lebens“ umdeutet. Der Werkzugang in der Philharmonie erfolgt, wie immer bei Wladimir Jurowski, hochindentifikatorisch. Das ist nicht unproblematisch.
Hallo Musikfest! Was wird gespielt 2021? Strawinsky, vor allem der späte. Wobei Seitenstränge zu Barock und zeitgenössischer Musik führen. Heuer ist die mediale Einbettung wirklich üppig. Streams in der Concert Hall, Radiokonzerte auf DLF und ein On-Demand-Dienst auf der eigenen Seite sorgen für digitales Dabeisein auch ohne Anwesenheit. So etwas nehme ich immer gerne in Anspruch. Und ähnlich wie 2020 gelingt in der Corona-Ausgabe Nr. 2 des Musikfests eine aufregend straff programmierte Festivalausgabe.
Freilich kocht auch das Musikfest nur mit Wasser und kauft wie anderswo die tourenden Orchester mitsamt Programm ein, das dann eben auch mal von der Stange kommt. So kann man den einen oder anderen der hiesigen Festivalbeiträge auch identisch in London, Hamburg oder Luzern hören. Präziser gastieren die kleineren Ensembles. Das Ensemble Musikfabrik aus Köln präsentiert seine zwei Sonntagskonzerte (Cleare, Poppe) eben nur in Berlin.
Benjamin, Mahler Chamber und die Pianistin Stefanovich
Tschüss Lockdown, benvenuti Publikumskonzerte? Ja. Vier Wochen vor Saisonende sieht alles nach Li-La-Lockerung aus. Klar ist aber auch: Livekonzerte im pickepackevollem Saal wird es noch eine Weile nicht geben. Apropos Konzerte. Ganz so schlecht war die musikalische Grundversorgung in Berlin im Wonnemonat Mai auch ohne Publikum nicht.
Irgendwie fühlt sich die ganze Streaming-Chose an, als hätte es sie so schon immer gegeben. Lang, lang ist es her, da man Schulter an Schulter in Block G saß und Pandemie ein Wort aus der älteren Geschichte war. Andererseits, ertappt man sich nicht dabei, klammheimlich ganz froh zu sein, nicht im pickepackevollen Konzertsaal zu sitzen? Schwer zu sagen.
Bei den Philharmonikern goutiert man weiterhin Riesenwerke. Am Kopfhörer steige ich bei Bruckners 9. (mit Mehta, immerhin einem der aufregendsten Brucknerdirigenten) beim 2. Thema aus. Die Neunte ist mir zur Zeit zu viel Andacht, zu viel Jenseits. Auch Messiaens pathetisches Toten-Epos Et exspecto resurrectionem mortuorum – keine Minute reingehört – fungiert da als astreiner Stimmungskiller. Aber da mag jeder Hörer anders ticken.
Neues gibt es beim RSB. Da startet am Sonntag eine Aufführungsserie, sechsteilig, Strawinsky gewidmet, vollständig gesendet via Radiokonzert. внимание, Achtung!, hier spricht Strawinsky, und der spricht die Sprache der Reduktion. Zumindest im ersten Konzert. Selten bis Nie-Gehörtes des übergroßen Russen erklingt, gleich zu Beginn die Acht instrumentalen Miniaturen für fünfzehn Spieler (1963), bei denen ich das Gefühl habe, ich höre Musik aus dem Reinraum, so ostentativ antiromantisch tönt das. Und, o Wunder, gerade dadurch rührt sie. In die gleiche Kategorie hüftschmal proportionierter Meisterwerke gehört der quirlige Pas de deux: Blauvogel aus Tschaikowskys Dornröschen. Das ist großartig indirekte Musik von karger Buntheit. Teilweise ein Upcycling-Projekt von Film-Ideen für Hollywood stellt die bezaubernde Ode (1943) dar, bei der das RSB exemplarisch zeigt, wie sich distanzierter Spätstil unmittelbar in Gefühl transformieren lässt.
Bitter, aber wahr: Corona macht’s möglich, nämlich derart aufregende Programme.
Dann ist der allerbeste Teil des Abends aber auch schon vorbei. Orpheus (1947) ist Ballettmusik in der Art des Apollon. Die klingt ähnlich dunstfrei, aber nicht so phantastisch konzentriert wie die zuvor gehörten Stücke. Das Puritanisch-Säuerliche, das Antiken-Werken der Neoklassizisten gerne mal anhaftet, hört man auch bei Orpheus. Abschließend Juri Faliks Elegische Musik, deren Hauptreiz die vier imposanten Posaunen ausmachen. Schade, dass der Rest nicht mehr bietet als x-beliebigen, Streicher-umwobenen Trauerflor à la Schostakowitsch. Gespielt wird live aus dem Großen Sendesaal des Rundfunkhauses.
Wann kommen die Konzerte mit Publikum wieder? März. Oder April.
Sonntag, 29. 11., 20.00, Haus des Rundfunks. Das RSB spielt vor lauschenden Mikrofonen, aber ohne Kameras. Die für das Konzert – mit Publikum – eigentlich vorgesehene Karina Canellakis, immerhin erste Gastdirigentin, ist sonderbarerweise für das reine Radiokonzert nicht mehr verfügbar. Cannelakis dirigiert frisch und fröhlich fast zeitgleich beim Symphonieorchester des BR. Stattdessen steht Wladimir Jurowski beim RSB am Pult. Es ist ja hochinteressant, wie sich die (relativ) neuen Berliner Orchesterchefs schlagen. Der elegant-nervöse Ticciati beim DSO, der dunklere, schwerere Jurowski beim RSB, der messerscharfe Petrenko bei den Philharmonikern. Was macht Jurowski also bei der Oberon-Ouvertüre (1826)? Zügelt Webers brillante Ritterlichkeit zugunsten von ungebügelter Rauigkeit.
So klingt die frühromantische Ouvertüre erwachsener, als schlüge in Oberon schon das Herz eines Fliegenden Holländers oder eines rabiaten Verdis. Siegfried-Idyll (1870) strebt in der Kammerfassung mit Streichquintett eine maximale Distanz zur Welt des Siegfried an, der es entstammt, bewahrt fast unwagnerisch intime Allüre und Privatheit. So ziemlich jedes Konzertprogramm, das in eine Beethovensinfonie mündet, erweist sich als sinnvoll. So auch heute. Das RSB gibt die Sinfonie Nr. 2 als frech federndes Wunderwerk, dem nie die Puste ausgeht. Vor allem der Kopfsatz wirkt wie ein einziger, riesengroßer Salto mortale. Im Andante ist alles dran, aber wenig drin, was sich in etwa so sexy anhört wie Raufastertapete. Es gibt einen historisch informierten Stil, der so unergiebig tönt wie schwäbischer Spätklassizimus. Mehr Freude verbreitet das versatil pulsierende Finale, wo das RSB das zweite Thema faszinierend kammermusikalisch runterbricht. Was Jurowski weniger interessiert: das Zusammenfassen und Abschließen. Auf Abruf zum Nachhören verfügbar ist das Ganze hier. Gut.
Am Freitag will ich aus dem Joseph-Joachim-Konzertsaal der UdK in ein Konzert des Ensemble des ilinx Studio für Neue Musik u.a. mit Musik der Finnin Saariaho hören. Geht aber nicht, denn blöderweise tut der Stream auf meinen Browsern gerade das nicht, was er bitte schön tun soll, nämlich streamen. Schöne, schwierige neue Streaming-Welt.
Diese ganzen Adventskalender im Internet! Zum Gähnen langweilig! Nur die Deutsche Oper öffnet die Türchen so, dass es eine echte Freude ist. Den Anfang macht am 1. Dezember Elena Tsallagowa mit Arpa gentil aus Rossinis brillanter Reise nach Reims von 2018. Udite, udite, o rustici!
Schöner die Adventskalender nie klangen: Elena Tsallagowa als Corinna in Rossinis Viaggio a Reims
Samstag, 5. 12., 19:00, Philharmonie. Die Philharmoniker tun Dienst vor leerer Halle, nur die Kameras schauen zu. Und die Musiker spielen ein federleichtes Konzert mit Strawinsky und Bizet. Das Werk des Abends ist die genial leichtsinnig komponierte Symphonie in C-Dur (November 1855) des 17-jährigen Bizet. Die Sinfonie befindet sich auf halbem Weg zwischen Beethoven (B-Dur-Sinfonie) und Prokofjew (Classique). Erst das Finale ist ganz 1850er. Das Stück hat es in sich. Es ist: spritzig, schlank und energisch, straff und gut gelaunt. Die Pulcinella-Suite von Strawinsky (1920) kommt aus ähnlicher Luft. Diese Musik schießt scharf, und jeder Schuss sitzt. Was von Pergolesis Melodien bleibt, tönt musikantisch, ist von zärtlicher Intelligenz, gibt sich lateinisch verspielt. Alain Antinoglu leitet flüssig und feurig bei Bizet, einen Mittelweg zwischen Farbe und Zeichnung findend bei Strawinsky. Corona ist auch eine Chance. Ich höre ein Programm, an das vor sechs Wochen noch niemand zu denken wagte.
Deutschland zieht den Kultur-Stecker. Wieder geht in Konzert und Oper das Licht aus. Für wie lange? Das weiß selbst das Virus vermutlich nicht so genau, geschweige denn der Kultur-Senator. Eine seltsame Stimmung zwischen fatalistisch und aufgekratzt liegt über den letzten Konzerten in Berlin.
RSB und DSO spielen wie auf Absprache Programme zum Zungeschnalzen, binnen 24 Stunden, das DSO in der Philharmonie, das RSB im Konzerthaus.
Insbesondere das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin macht aus der Corona-Not eine Programm-Tugend, präsentiert ein kaum so für möglich gehaltenes Programm, das vermutlich nur ein Vladimir Jurowski ausdenken kann. Das Thema: neu-alte Werk-Spiegelungen, respektvoll-selbstbewusste Neu-Einhegungen von Älterem. Die 14 Kanons aus den Goldbergvariationen von Bach, für Kammerorchester gesetzt von Friedrich Goldmann, uraufgeführt in der Akademie der Künste in Berlin-Ost 1978, sind dabei auch eine Verbeugung vor der Berliner Geschichte. So gemächlich intonieren die Hörner ihre Fundamentalnoten, so liebevoll ironisch führen die Celli ihre Glissandi aus, so keck agieren die Bläser, dass sich die Kanons zu einer behutsam aufpolierten Tour d’horizon durch das berühmte Bach’sche Werk runden.
Anstehen Parkett links: Wildes Party-Volk der Klassikszene tritt die Corona-Maßnahmen übel mit Füßen
Als Ersatz für das ursprünglich angesetzte Violinkonzert von Edison Denisow dann fünf von Paganinis Capricen in Denisows ironisch-spiegelfechterischer Fassung für Streichorchester und anschließend Bachs Choralvorspiel Ich ruf zu dir BWV 639 in der Bearbeitung von Anders Hillborg. Den Violinpart spielt jeweils Fedor Rudin, der die Capricen nervös beginnt, dann bedächtig, kontrolliert die Doppelgriffstudie No. 9 La Chasse angeht sowie die berühmte No. 24 ganz als Geiger von Format hinlegt. Keine Stücke sind das, um selbstverliebt zu glänzen, eher introvertierte, hochinteressante Piècen für Klang-Genießer.
Am Ende ent- und verzückt das total unbekannte Divertimento nach Couperin op 86 von Richard Strauss, dieses rätselhaft optimistische Gegenwelten-Werk – die Uraufführung datiert vom Januar 1943, Wien. Wie Konfetti wirft das Orchester Bläserfarben und Rokoko-Linien in den Saal. So tönt eine zeitlos zärtliche Musik. Man braucht nur den pastoralen Tonlagen lauschen. Ich dachte immer, ich wäre neben Thielemann der einzige Fan der Instrumentalmusik des späten Strauss innerhalb der westlichen Hemisphäre. Jetzt weiß ich, wir sind zu dritt, Herr Jurowski (Glenn Gould gehört eigentlich auch dazu).
Albrecht Selge fragt zurecht, ob die Oper Die Frau ohne Schatten nötig sei im Rahmen eines Musikfests, das sich 2019 mit Berlioz, Neuwirth. Eötvös, Varèse und Andriessen schmückt. Doch der schwierigen, von der Bürde eines überreichen Librettos belasteten Oper tut die Protektion durch ein renommiertes Festival immer noch gut. Das mächtige, prächtige Werk steht weiterhin unter Kitsch- und Unerheblichkeitsverdacht. Fast schon als Musikfest-typisch erweist sich die hohe Dichte an Liebhabern und Kennern im Publikum.
Herzlicher Applaus beim Konzert des RSB im heimeligen Konzerthaus mit seinem goldigen 1980er-Stuck, wo Vladimir Jurowski seinen Mahler liebt und sich zuvor zusammen mit dem Pianisten Angelich spannungsvoll konzentriert um Brahms kümmert. Und mittendrin das frisch Tournee-erporbte Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin.
Jung, erfolgreich, Chef: Wladimir Jurowski ist designierter Chefdirigent des RSB / Quelle: rsb-online.de
Wladimir Jurowski wird Nachfolger von Marek Janowski beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Das teilte das RSB mit. Jurowski wird das Orchester ab der Saison 2015/2015 leiten. Seitens des Orchesters spricht man von einem Wunschkandidaten. Jurowski leitete beim RSB zuletzt eine Aufführung der Sinfonie Nr. 3 von Alfred Schnittke. Marek Janowski teilte im Frühjahr mit, dass er seinen bestehenden Vertrag nicht verlängern wolle. Weiterlesen →