Das letzte warme Wochenende in Berlin. Am Sonntag schnell noch im Langer See gebadet, nach Hause geeilt, erste Hochrechnung geschaut, dann gemütlich zum DSO in die Philharmonie getingelt. Vorher gab’s am Samstag zu den Berliner Philharmonikern.

Die präsentieren ein Programm nach dem bewährten Uffkosi-Konzept: Ouvertüre, Konzert, Sinfonie. Zuerst von Rimsky-Korsakow die seit der Tscherniakow-Produktion der Staatsoper vertraute Zarenbraut-Ouvertüre mit ihrer überschwänglichen Tutti-Koketterie. Dann kommt ein Konzert, das von den kaum gespielten, so gut wie unbekannten Konzerten fast das größte scheint. Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 1 ist eine unfassbar imponierende Kostbarkeit. Und da kommt schon der Solist, großgewachsen, soignierte Erscheinung, nicht mehr ganz jung. Die Eröffnung tönt wie Schumann (nur viel schwieriger).

Rachmaninow Klavierkonzert
Rachmaninow: 3. Satz, Überleitung zu Thema 2 / Foto: Digital Concert Hall/berliner-philharmoniker.de

Nikolai Lugansky hat alles: klare, flüssige Technik, brillantes Passagenspiel, einen federleichten Anschlag und harmonisch gerundeten Ton. Ein Architektoniker, wie man vor hundert Jahren gesagt hätte, ist der Russe nicht. Die Kantilene des Andante schwebt fast impressionistisch. Da ist keine Richter-Schwere. Dafür höre ich eine imponierend durchdachte, rundum feine Darstellung. Lugansky bringt Mittelstimmen resignativer Melancholie zum Leuchten, die der 17-jährige Rachmaninow in seinem Übermut hinter den stolzen Verlautbarungen der Rechten versteckte. Tugan Sochiew hält das Orchester im sicheren Bezirk: Ich höre tonliche Sauberkeit, Eleganz, eine Löffelspitze Leidenschaft. Die Geigen agieren streichzart, aber mit Berliner Disziplin. Dazu im Andante Damianos Fagottklage und Andrej Žusts Horn. Ich schaue Digital Concert Hall.

Es gibt da eine Aufnahme des jungen Lugansky unter Gorenstein (Горенштейн), dem Nachfolger Swetlanows beim Staatlichen Akademischen Sinfonieorchester. Die ist kühner, auch mitreißender. Aber heute interpretiert Lugansky, der weicher spielt als Trifonow und eleganter als Bronfman, hinreißend abgeklärt. Luganskys Rubato tendiert überall zum Sachlichen – nur in der Kadenz find ich es übertrieben, wie mir übrigens die dortigen Forte-Ausbrüche zu markig scheinen. Folgt ein weiteres, obskures Schmuckstück der europäischen Orchesterliteratur, die Sinfonie B-Dur von Ernest Chausson. Das Werk – gute halbe Stunde, drei Sätze – ist ziemlich gut gemacht und schwankt zwischen Parsifalverehrung (Einleitung, langsamer Satz) und einem erfrischenden, burschikosen Präimpressionismus (Kopfsatz). Die Philharmoniker lassen das Werk von Chausson leuchten wie ein Bild von Gustave Moreau. Sochiew, der Prototyp des absolut verlässlichen, gediegenen und dennoch modern klingenden Orchesterleiters, tariert Farben und Linien aus.

Late Night mit Oksana Lyniw

Kaum ist das Musikfest mit seinem Strawinsky-Schwerpunkt vorbei, kommt die Ukrainerin Oksana Lyniw bei den Philharmonikern mit einer Late Night voller – Strawinsky. Vom Dumbarton-Oaks-Konzert, das im schwerelosen Neobarock der 30er vor sich hintönt, gehts über das Oktett (1923), ein Paradebeispiel dafür, wie spartanische Linienführung und unverbrauchte Klarheit des Klangs zusammenkommen (zufriedenstellend wie vier Stunden erstklassiger Lohengrin), bis zur allegorischen Burleske Renard aus dem Kriegsjahr 1916, in der der Sacre-Stil emotionslos beerdigt wird. Da illustrieren traumhaft spezifische Instrumentaltimbres die Moritat vom bösen Fuchs. Gerne würde man die Dirigentin bei einem 20-Uhr-Konzert hören.

Oksana Lyniw: Bitt’schön, die Herr’n, a ganz a bissl mehr G’fühl / Fotos: Digital Concert Hall/berliner-philharmoniker.de

DSO mit Wumms und Poesie

Sonntagabend. Während ganz Berlin auf Hochrechnungen starrt, starre ich in der Philharmonie auf den Wuschelkopf von Ticciati. Auf dem Programm beim DSO stehen Stücke der gebürtigen Londonerin und Wahlberlinerin Saunders und des Oberösterreichers und Wahlwieners Bruckner. Wahllos glücklich bin ich mit dem Violinkonzert („Still„) von Rebecca Saunders. Das Werk besteht aus zwei gleichgewichteten Teilen (schnell-laut, langsam-leise), was als Form konventionell wirken mag, Zugang und Hören aber ungemein erleichtert. Solovioline und Orchester schenken sich nichts. Dennoch bewahrt Carolin Widmann die Ruhe, wenn Schlagzeug- und Blechattacken über sie hinwegrollen. Widmann ist ja eher eine Geigerin vom Typ „exakt und gründlich“. Dabei bildet Widmanns messerscharfe Artikulation ein Gegengewicht zur wundervollen klanglichen Unschärfe des Orchesters (Blech!). In Teil 2 dann nebelhafte Schichtungen, zwischen denen die Violine klamme Lebenszeichen sendet. Ein Werk mit Wumms und Poesie.

Ist Corona eigentlich vorbei in der Philharmonie? Geht so. Man sitzt wieder dicht an dicht, aber während des Konzerts tragen alle FFP2-Maske. Dafür tritt das Deutsche Symphonie-Orchester erstmals wieder in Brucknerbesetzung an und sitzt altgewohnt eng beieinander.

Robin Ticciati, Schlussapplaus: Da rennt aber wer

Bruckners Sinfonie Nr. 9 klingt bei Ticciati schön nervös, schön hektisch. Düsteren Weihe-Ton vermeidet Ticciati wie der Teufel das Weihwasser. Dafür nimmt der DSO-Chef eine denkbar nüchterne Melodik in Kauf. Und der imposante Reprisendurchbruch wirkt überhastet. Keine Neunte zum Sich-Versenken, sondern eine zum analytischen Hören. Barenboim und Thielemann hören jetzt bitte einfach mal weg. Am geschlossensten gelingt das Scherzo, wo die Musiker den heißen Atem des Paukers im Nacken spüren. Auch das Adagio – vibratosparsam gestrichen – profitiert von Durchhörbarkeit und einer geradezu kahlen Weiträumigkeit, die noch in den gläsern durchleuchteten Höhepunkten mitklingt. Vermutlich kein Bruckner für die Ewigkeit, eher eine interessante Alternative zur gängigen Brucknerpraxis. Und ein Wink, wie Bruckner in zwanzig Jahren klingen wird?

Conradi-Gehlen quirlig wach

Das YouTube-Streaming von Unerhörte Musik war für mich einer der Lockdown-Sounds. Heute kehre ich zu der Kreuzberger Konzertreihe zurück, um das Gitarrenduo Conradi-Gehlen zu hören. Vor Ort sitzt Publikum, ich sehe die beiden Herren via Stream. Zuerst einmal zeigt der Abend, dass Gitarrenmusik jenseits von Fernando Sor und Joaquín Rodrigo existiert. Das hochinformative Konzert bringt sieben kurze zeitgenössische Stücke für zwei Gitarren. Das erste, iv 14, kommt gleich von Mark Andre, es sind lustig kurze Miniaturen, bei denen das Ablegen der Instrumente und Umblättern in etwa so viel Zeit in Anspruch nimmt wie die Sätze selbst. Im Anhang findest Du… von Violeta Dinescu lässt durchaus klug und unterhaltsam folkloristische Gitarrengesten wiederaufleben. Von Stefan Lienenkämper erklingt Mind the Gap. Das ist wache, assoziativ raumöffnende Musik. Vor dem Hintergrund dezenter Zuspielungen werden Gitarrengesten flugs zu melancholischen Kommentaren. Mira heißt die Uraufführung für zwei E-Gitarren von Sidney Corbett. Das Werk ist so kurz wie die anderen des Abends, dabei introvertiert und randvoll mit gedämpfter Akustik. Um so leiser die Pfoten sind, auf denen die Musik daherkommt, umso spannender wird es.

Shadowgraph, 5 des Jazz-Posaunisten George Lewis erweitert dann das Spektrum der Klang- und Geräuscherzeugung erheblich. Gleiches gilt für den Anteil der eingespielten Geräuschschnipsel. Das groovt entspannt, wirkt aber letztlich beliebig. Gerhard Stäbler lotet in Stillschreiend anders dynamische Kontraste und Beschleunigungsvorgänge aus – handwerklich brillant, aber etwas zu durchsichtig. Interessanter ist das quirlige Weird – Wired für zwei per Draht verbundene Gitarren von Matthias Kaul. Hier wird witzig ein wuseliges Sammelsurium aus akustischen Geräuschklängen produziert. Ein kurzer Neue-Musik-Abend voller Überraschungen und unbekannter Namen.