Zwischen Igor und Strawinsky passt immer noch ein Violinkonzert. Oder ein Frühlingsopfer. Les Siècles aus Paris spielen in der Philharmonie Strawinskys burschikoses, kompliziertes Violinkonzert. Solistin ist Isabelle Faust. Schwierig zu hören ist dieses Konzert, weil es so verflixt antiaffektiv und gleichzeitig bestechend klug ist. Dann die Enttäuschung: Kopfsatz (Toccata) und Finale (Capriccio) schnurren ohne Überraschung in die Mikrofone. François-Xavier Roth fällt nicht viel ein – und Faust auch nicht. Mein Problem mit Les Siècles: Man hört, dass die Franzosen wissen, wie gut sie klingen. Aria I wird dahingegen von Isabelle Faust beherrscht. Noch mehr beherrscht durch Isabelle Faust wird nur Aria II – durch unaufdringlich intime dynamische Beleuchtung und durch ein heiser singendes Vibrato. Und durch einen Ton von vorbehaltloser Distinktion. Eine unendlich süffige, unendlich betörende Affektstudie. Zauberhaft. Ich höre das Konzert auf Deutschlandfunk.

Ein Violinkonzert macht noch kein Frühlingsopfer

Sacre du Printemps zählt nicht direkt zu meinen Lieblingsstücken, auch wegen dem wenig appetitlichen Thema: Frauentötung aus gesamtgesellschaftlicher Notwendigkeit. Der hypergehypte François-Xavier Roth ist der Dirigent der Stunde. Aber auch beim Frühlingsopfer sagt mir sein Zugang nicht wirklich zu. Dennoch: Erstaunlich die Präsenz der Holzbläser in der Introduktion. Erstaunlich der Verzicht auf Orchesterfett. Erstaunlich die exakt durchhörbaren Ausbrüche. Flirrend das Jeu du rapt. Aber zumindest via Deutschlandfunk klingen die spezifischen Klangfarben, das überhart ausgeleuchtete Tutti leicht dröge. Das berühmte Hauptthema hat was Banales. Gleiches gilt fürs Hauptthema der Rondes printanières. Alles zu offensichtlich. Irgendwie ein Strawinsky für Veganer.

So bleibt es Canticum Sacrum vorbehalten, für ein bisserl Freude zu sorgen. Das späte Werk (1955) erinnert an die Psalmensymphonie: Man versteht vor lauter Trompeten kein Wort Latein. Dafür hält das kammermusikalische Feingewebe bis zum Schluss. Dessen delikate Kargheit liegt dem Orchester. John Heuzenroeder (Tenor) und Miljenko Turk (Bariton) setzen sich für das Werk, das vielleicht doch nicht zu den Meisterwerken der späten Jahre gehört, ein. Das Konzert ist nachhörbar, einnehmend moderiert von Ruth Jarre: DLF Sacre.

Neues von Adámek, Neuwirth, Lang

Gute Nachrichten! Der Stellenwert neuer Musik im Berliner Musikbetrieb steigt weiter. Beim Musikfest stellen inzwischen selbst die Gastorchester die Lauscher in Richtung Zukunft. Hübsch obendrein: Deutschlandfunk, Concert Hall und der On-Demand-Dienst des Musikfests machen Angebote zum Mit- und Nachhören. Ich lasse Beethoven 6. (LSO, Rattle), Bruckner 4. (Philharmoniker, Hrůša) und Mahler 10. (DSO, Ticciati) aus und höre stattdessen jeweils die Stücke vor der Pause. Where are you? von Ondřej Adámek gibt sich beim Gastspiel des London Symphony Orchestras witzig, versatil instrumentiert und ist stolze 37 Minuten lang. Geht so. Ich hätte von den Londonern lieber Cockaigne von Elgar gehört, auch wenn Magdalena Kožená wieder einmal mezzoschön singt.

Karajan-Akademie: Holzbläserkorps / Bild: Digital Concert Hall/berliner-philharmoniker.de

Kurz darauf spielen die Philharmoniker eine Uraufführung, Keyframes for a Hippogriff der Österreicherin Olga Neuwirth. Die wilde Mischung von Texten (Nietzsche, Ariost, Neuwirth) verwässert das Ganze. Hart wird’s, wenn der Tölzer Knabenchor Solidarity, humanity! intoniert. Abgesehen davon besitzt das vokalsymphonische Zwitterwerk feine Passagen. Packend: die turbulenten Stimmkreuzungen und das schneidende Tutti. Stets wahrt das Werk verführerisch transparente Komplexität. Orchesterleiter Jakub Hrůša hält den Laden zusammen. Countertenor Andrew Watts singt deklamatorisch drängend und punktgenau. Vom Konzert des DSO höre ich in der Nacht noch Klaus Langs Ionisches Licht (UA der Neufassung). Das ist erstmal kein großer Aufwand. Das Stück geht zehn Minuten. Aber selbst die gehen kaum vorbei. Ionisches Licht stellt eine Kreuzung aus Fontane di Roma und der Hintergrundmusik bei Planetariumsbesuchen dar.

Gar nich so schlecht: Karajan-Akademie

Aus, vorbei. Die Karajan-Akademie unter Matthias Pintscher bestreitet das letzte Konzert des diesjährigen Musikfestes. Es ist nicht das schlechteste; stehen Iannotta und Schönberg auf dem Programm, kann wenig schiefgehen. Intent on Resurrection von Clara Iannotta macht den Anfang. Iannotta sorgt für Faszination. Wirken die von mikroskopischen Vorgängen erfüllten Geräusch- und Klangfelder statisch, so kennzeichnet sie doch eine Beweglichkeit von großer Eleganz. Intent on Resurrection ist von eigentümlicher Folgerichtigkeit. Gleichzeitig besticht die Klarheit des Klangbildes. Simon Höfele ist der versierte Solist in Pintschers celestial object I, wo sich Solotrompete und Ensemble ohne allzuviel Intensität vernetzen. Ein nettes Stück, aber ohne eigenen Ton. Wobei eine Solotrompete in Aktion schon was Feines ist.

Karajan-Akademie: Schönberg / Bild: Digital Concert Hall/berliner-philharmoniker.de

Eigenen Ton hat HIMMEL von Lisa Streich, wo so einiges zusammenkommt: suggestive Rauheit, windschiefe Intonation. Klanglich ist das frugal. Und die Haltung neoromantisch. Ich bin nicht hingerissen, höre aber hier schnell und unkompliziert in ein paar andere Sachen von ihr rein. E poi Schönbergs erste Kammersymphonie. Pintscher nimmt das Stück ein bisserl wie eine Serenade. Schön flüssig, wunderbar helltönig, hurtig. Die Stimmen klingen unheimlich unabhängig. Die Akademisten spielen umwerfend. Barenboim & Staatskapelle streamten das im März vollkommen anders. Passt dennoch. Das ganze Konzert zieht sich etwas. Für drei kurze Stücke und die Kammersymphonie sind knappe 120 Minuten ne ganze Stange Zeit. Egal. Gutes Konzert. Schönbergs Kammersymphonien, egal ob erste oder zweite, könnte ich jede Woche hören.


Weitere Berichte: Freude im Quadrat zu Les Siècles (Hundert11), Beherzte Basisarbeit über das DSO (Ulrich Amling)