Das Rundfunk-Sinfonieorchester, das nicht 75 ist wie das DSO, sondern 96 (gegründet im Stresemann-Berlin 1925), spielt ein langes, nicht einfaches Konzert. Ich höre Spätwerke von Berg und Tschaikowsky sowie eine Uraufführung der in England lebenden Russin Firssowa. Das Thema heißt Tod und Nacht – was das RSB beschönigend in „Spirale des Lebens“ umdeutet. Der Werkzugang in der Philharmonie erfolgt, wie immer bei Wladimir Jurowski, hochindentifikatorisch. Das ist nicht unproblematisch.

Wie war’s? In Alban Bergs Violinkonzert finde ich die Bläser zu laut und den Solisten kaum hörbar. Und wenn ich Daniel Hope höre, pinselt seinen Geigenton breit und lässt Detailschärfe schmerzlich vermissen. Sein Ton: viel weiche Textur, wenig spannungsvolle Plastizität. Hopes Spiel: wenig scherzando (wie Berg notiert). Dirigent Jurowski lässt das Tutti sinfonisch schwer fließen – hören Sie zum Beispiel die Kärntner Weise oder das wienerische Thema. Ich höre auch, wie das RSB Tschaikowskys Sechste versteht: affektdirekt, herb. Jurowski ist heute Abend keiner, der am Ton-Filigran arbeitet. Das tönt rau und ungefiltert. Das walzerverhüllte Allegro con grazia (2. Satz) weht klangpauschal vom Podium – und wirkt dynamisch undifferenziert. Das Scherzo will überwältigen. Passagenweise klingt der Tschaikowsky nicht sonderlich gut geprobt.

Wie dem auch sei, zuerst kommt Nacht in Appen von Jelena Firssowa. Das ist ein 17 Minuten leicht und reich gearbeitetes Nachtbild. Das Stück kommt dem, was man früher unter Tondichtung verstand, recht nahe (Tschaikowsky-Sinfonie und Berg-Konzert tragen ja gleichfalls Züge symphonischer Dichtungen). Individuelles (Natur-)erleben, das Furcht und freundlichen Ausgang einschließt, läutert sich zum autonomen Kunstwerk. Irgendwie hübsch, wenn der Anlass so biographisch-anekdotisch ist: Während einer Nacht im Hause Sofia Gubaidulinas, der nun neunzigjährigen Komponistinnenkollegin, versetzen unheimliche Nachtgeräusche Firssowa in Schrecken – bis Vögel den nahenden Morgen ankündigen. Nacht in Appen erwächst aus Stille und erlischt in Stille. Das ist so reizvoll wie sparsam komponiert, fast kann man sagen, in Szene gesetzt. Hörenswert, transparent, verlockend.

Ab Januar gibt es beim RSB mehr von Frau Firssowa, die ihr schmuckes Kleid einmal Anne-Sophie Mutter leihen sollte. Und Sochiew führte beim DSO vor drei Jahren übrigens Firssowas feinstufiges Doppelkonzert auf. Seitdem kenne ich die Komponistin.

Eine Saisonbroschüre wie jetzt vom RSB ohne Aufführung der Konzertprogramme ist ja auch mal eine Überraschung.


Weitere Kritiken: „Noch besser, noch berührender“ (Hundert11), „Absolute Wohltat“ (Andreas Göbel)