In dieses Konzert gehe ich wegen Jurowski und Haydn, aber natürlich auch wegen Hampson.

Auch die Sinfonie Nr. 45 („Abschied“) ist eines jener Werke Haydns, in denen alles kolossal erstaunlich und nichts vorhersehbar ist. Im ersten – monothematischen – Satz setzt in der Durchführung ein unerklärliches Streicher-Pianissimo ein. Das folgende Adagio wird länger und länger, fast eine kleine Ewigkeit wartet man auf die beiden Oboen. Und dann passiert es: Nach endlosen, fein artikulierten, mathematisch klaren Streichergesängen intonieren die Hörner ihr Motiv! Die klingen dafür so reich wie selten. Vladimir Jurowski und das RSB spielen packend, wenns schnell ist, und berührend, wenns langsamer zugeht. Dort mit Verve und dynamischer Akribie, hier mit genauem Ausdruck. Im wundervoll kompakten Schluss-Presto demonstriert das RSB Schlagfertigkeit, Sturm, Zusammenhalt, Schärfe. Warum spielt man immer nur die pompösen späten Sinfonien? Wobei der berühmte Adagio-Schluss musikalisch fast der am wenigsten faszinierende Teil dieses symphonischen Kleinods ist.

Also Haydn geht immer.

Thomas Hampson, so etwas wie der Grandseigneur unter den Baritonen, singt die fünf Rückert-Lieder von Mahler, die kurz nach 1900 im Umfeld der Sinfonien Nr. 4., 5. und 6. entstehen. Auch ein Hampson muss erst in die Musik reinkommen. Er fängt verhalten an, der schlichte Ausdruck in Blicke mir nicht in die Lieder ist kein Selbstläufer, muss vielmehr hochkonzentriert erarbeitet werden. Man hört, wie dieser große Sänger um die Einbindung der Halbstimme kämpft. Oder wie die Spitzentöne nicht mehr so problemlos erreicht werden wie vor zehn, fünfzehn Jahren. Dafür fährt seine Interpretation das Opernhafte zurück, wird inwendiger. Hampson steigert sich von Lied zu Lied. Ich bin der Welt abhanden gekommen wird zum Höhepunkt. Da wirkt Hampsons Vortrag unergründlich spontan und wird zugleich getragen von intimster, jahrzehntelanger Vertrautheit mit dem Lied – Mahler mag in ihm sein eigenes Leben widergespiegelt gesehen haben. Hampson singt ohne jede Larmoyanz. Dafür mit einer Fülle der farblichen Nuancen, die bezwingt. Und die Nuancen sind dann auch immer expressive. Wunderbar! Die Halbstimme der letzten Strophe gerät berückend.

Es gibt ordentlichen, aber keinen überschwänglichen Jubel. Ist das dem verhaltenen Beginn geschuldet? Oder der Intimität der Lieder?

Vladimir Jurowski übersetzt die durchsichtige Instrumentierung Mahlers in herrlich karges Musizieren. So kommen Stellen ganz eigener Faszination zustande, etwa das Hornquartett am Ende von Lied 2 oder die Bläserbegleitung zu Lied 4. Kleine Verwirrung beim ersten Lied: Hampson singt selbst statt selber, wie im abgedruckten Text steht, und reichen Honigwaben statt reifen Honigwaben. Er liegt zwei Mal richtig. Bei der ersten Stelle existieren beide Versionen, selbst scheint aber die gebräuchliche zu sein, bei der zweiten zitiert das Programmheft wohl den Wortlaut des Gedichts, Mahler jedoch scheint bei der Vertonung reif durch reich ersetzt zu haben.

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Da sitzt ja Siobhan Stagg, die Sopranistin – neulich erst als Gilda gehört – der Deutschen Oper. Ist sie wegen Hampson hier? Wegen ihres Landmanns Brett Dean? Oder weil sie bald Debussys Ariettes Oubliées in der Orchesterfassung von Brett Dean singen wird?

Womit wir bei Brett Dean wären. Die zweite Konzerthälfte fährt schweres Geschütz auf. Zusammen mit dem Rundfunkchor Berlin und dem australischen Teenagerchor Gondwana Voices arbeitet man sich durch die drei Sätze von Vexations and Devotions (2006) des Australiers Brett Dean. Die Partitur ist reich, bisweilen dunkel, oft aufregend virtuos und klanglich opulent. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin bewältigt den Instrumentalpart differenziert und schönklingend. Konzeptionell hebt das Stück auf den Gegensatz von sinnentleerten Gebrauchstexten und idealischer Lyrik ab. Die Chöre! Damit beginnen die Probleme. Nie weiß ich, wo im Text wir gerade sind – außer bei der zugespielten Telefonstimme. Ich verstehe nichts – außer bei der zugespielten Telefonstimme. Ich bekomme Pusteln, wenn Chorsätze im 21. Jahrhundert wie ein Brahms-Requiem klingen, Halteton, eine Sekunde rauf, Halteton, eine Sekunde runter. Ob das gut gemeinte, etwas phlegmatische Werk das übernächste Jahrzehnt erleben wird, steht in den Sternen. Aber wie gesagt, was das Orchester an Tempo und fulminanter Präzision abliefert, ist genauen Zuhörens wert.