Günther Groissböck ist Unter den Linden ein von Lerchenau der lässigen Virtuosität. Ein Kavalier wie auf dem Theater, freimütig und derb und plastisch, mit der Eloquenz eines Theaterschauspielers. Hofmannsthal: „Ein Luder ist er… aber nicht ohne Kraft, nicht ohne Humor“. Groissböck, der Niederösterreicher, tut österreicheln ohne Anbiederung. Verbindet die Gravitas der Großen Oper mit der Grandezza der Komödie. Auch für die Zumutungen – sie waren es schon bei der Dresdner Uraufführung und wurden folglich gestrichen – der Ochs-Passagen wie „Wär‘ Verwendung für jede“ und „Zuzug von jungen Mägden aus dem Böhmischen“ gilt: Groissböck singt, als würde er sprechen. Das kann sonst keiner.
Groissböck ist primus sine paribus. Aber neugieriges Interesse weckt das Rosenkavalier-Dirigat von Joana Mallwitz.
Hälse recken sich beim Auftrittsapplaus, um einen Blick auf die debütierende Dirigentin zu erhaschen. Dabei geht das erste Vorspiel gründlich daneben, weil haarsträubend ungenau. Im Folgenden wird mir abwechselnd kalt und heiß. Mallwitz‘ erster Akt zieht nicht. Schönes steht neben Geschnuddeltem. Auffällig die Heftigkeit der Solo-Holzbläser. Das zeichnet Mallwitz aus: Helligkeit des Klangs (Mallwitz als Anti-Barenboim), spontane Frische. Die Vorspiele zu Akt zwei und drei haben tatsächlich Lustspielbravour, aber ganz ohne Strauss-Schwere und symphonische Schwerfälligkeit, dafür mit viel Lachen im Klang. Das kann Mallwitz. Und sonst niemand?
Aus dem von Lerchenau macht Günther Groissböck keine Karikatur, sondern einen Charakter. Hier ist der Ochs ein Mensch. Das Verblüffende: Der Österreicher Groissböck verzichtet auf das chargierende Andienen an die Rolle. Da sitzt kein geiler Alter aus dem Buffo-Repertoire nicht, sondern die selbstbewusste Männlichkeit vom Land. Außerordentlich ist Groissböcks Leistung in punkto Aussprache, in punkto Sprech-Sing-Souveränität. Was er singt, ist zugleich Text. Glasklar. Hofmannsthals Genie auslotend. Nichts Forciertes. Zur Zeit wohl singulär (wie als Orest – neben Pape).
Ist der Wettergott Wagnerianer? Schwer zu entscheiden. Das pralle Ostersonntagswetter hindert normalsterbliche Wagnerianer in Berlin jedenfalls nicht am Besuch der vorletzten Festtage-Vorstellung.
Nach der Prokofjew’schen Verlobung im Kloster am Vortag tue ich mir schwer mit dem „biederen Pomp“ (Thomas Mann) der Meistersinger. Doch die Sänger höre ich gerne.
Andrea Moses denkt Wagners Festoper von der Gegenwart aus. Hier bevölkern die Meistersinger als honorige Mittelständler-Chefs eine holzgetäfelte Führungsetage, umwuselt von schmucken Büro-Lehrbuben. Das Prügelprogrom der Johannisnacht kommt direkt aus einer durcheinandergewürfelten deutschen Gesamtgesellschaft, ebenso die lärmende Festwiesenfreude vor nagelneuer Berliner Schlosskulisse, die nach Sachsens Ansprache strahlend Rasengrün weicht. Das sieht so steril aus, dass man sich fast nach der unwirtlich urbanen Neon-Nacht des 2. Aktes sehnt. Der 2. Akt ist ansonsten eine recht fade Angelegenheit, obwohl Sachs beim Fliedermonolog an der hauseigenen Hanfplantage schnuppert. Einen einzigen Lacher gab’s dafür am Sonntag. Akt 1 und Akt 3 funktionieren hingegen gut in gut bespielten Räumen (Bühne Jan Pappelbaum).
Hans Sachs (Wolfgang Koch) ist als erfolgreicher Schuhunternehmer inszeniert, der ein Alt-68er geblieben ist und dennoch um Tradition und Altvordere weiß, wertkonservativ gesinnt und doch offenen Herzens, eine Art Winfried Kretschmann auf der Opernbühne. Am allesentscheidenden Morgen steht Sachs im Schlabberhemd am Lesepult seiner 20.000-Euro-Bibliothek (nur die Regale) und beherrscht die Bühne durch Lässigkeit. Koch ist ein suggestiver Darsteller von hohen Gnaden und er setzt dem Sachs eine Seele ein, generös menschelnd und jovial singend, in der Mittellage ausnehmend schön, in der Höhe nicht so brachial-schallend wie Michael Volle, doch beherrscht Koch auch die transparente Halbstimme in der Höhe. Koch singt mit der Kraft der Schönheit, mit einer sozusagen modernen Wagnerstimme, in der sich dezentes Metall und weiche Umhüllung schmeichelnd vereinen.
Auch Klaus Florian Vogt singt einen aufregend anderen Stolzing. Mit konsequent lyrischem Vortrag und selten klarer Diktion. Das Konzept von Vogts Ton: hell und leicht, dazu ein Schuss Naivität. Was für ein Genuss! Das Preislied ist purer Wohltat-Wagner zwischen Parnass und Paradies. Ausdrucksträger ist stets der fast kammermusikalische Stimmklang, das gilt selbst in der von einer attraktiven Leichtmetalllegierung getragenen Höhe. Was mich bei Vogt immer noch stört, ist die Phrasierung ohne Spannung. Doch ich halte Vogts Walther von Stolzing für den derzeit besten in Wagners weiten Landen. Dass Vogt sehr kurzfristig einspringt, ist Grund zur Freude. Doch der Tenor singt tags zuvor die gleiche Rolle in Salzburg unter Thielemann. Ist dies nicht unverantwortlich gegen sich selbst, auch wenn Vogt sich im 1. Akt flink frei singt?
Die Eva Pogner ist bei Regisseurin Moses nicht das Ev’chen von züchtig deutscher Gefühlstiefe, sondern eine patente junge Dame in schrecklichen Liebesnöten, die sich erst in allerletzter Sekunde für den Junker entscheidet. Julia Kleiter spielt die nicht ganz stressresistente, daher Zigarette qualmende Eva bravurös und nervös gestikulierend. Sie brilliert im Quintett, singt dort rein und leuchtend, hat für meinen Geschmack in den berückend hell gesungenen rezitativischen Passagen wenig Intimität oder Ausdruck in der Stimme. Auch Martin Gantner (Beckmesser), für Kränzle eingesprungen, verkörpert seine Rolle hell und dazu auch noch markant und ohne charaktertenorales Gedöns. Beckmesser – einmal nicht als Außenseiter-Karikatur, sondern als gestandener Mann, der allerdings als jämmerlich Versagender im Wettsingen erstaunlich wenig Mitleid auf sich zieht.
Neben Vogt und Gantner ist der Pogner von Matti Salminen eine weitere kurzfristige Umbesetzung. Salminen, unvergessen als Gurnemanz und Marke an beiden Berliner Häusern, singt einen äußerst problematischen Auftritt im 1. Akt (für den er zwei schallende Buhs beim Schlussapplaus bekommt) und einen respektabel kraftvollen im 3. Akt. Eine helle Freude ist der David des Südafrikaners Siyabonga Maqungo mit deutlicher Aussprache, kunstfertiger Belcanto-Kultur, gutem Deutsch und Stimmreserven. Dass ein Afrikaner in den ach so deutschen Meistersingern singt und reüssiert, fügt der Vorstellung eine hochinteressante Note hinzu, die das Publikum beim Schlussapplaus auch zu honorieren scheint. Die hochgewachsene Lene von Katharina Kammerloher gerät drahtig und gerade heraus. Ein bleibender Publikumserfolg ist die Riege der altgedienten Meistersinger mit Franz Mazura (Schwarz), Graham Clark (Vogelsang), Siegfried Jerusalem (Zorn), Reiner Goldberg (Eisslinger) und Olaf Bär (Foltz). Der Nachtigall von Adam Kutny, der Kothner von Jürgen Linn, der Moser von Florian Hoffmann und der Ortel von Arttu Kataja komplettieren die Meisterriege. Als Nachtwächter versieht Erik Rosenius seinen Dienst.
Wie gesagt, mir fehlte nach der musikalisch fulminanten Prokofjew-Premiere das Ohr für die Meistersingermusik. Es wird anfangs auch schlampiger musiziert. Freilich hält Barenboim das Tempo zu Beginn enorm hoch. Zur Staatskapelle und Daniel Barenboim deshalb nach der Ostersonntagsvorstellung mehr.
Julia Kleiter (Sopran), Elisabeth von Magnus (Mezzosopran), Werner Güra (Tenor), Florian Boesch (Bass), Rundfunkchor Berlin (Einstudierung Simon Halsey), Berliner Philharmoniker
Ich war nicht in der 7. Bruckner, dirigiert von Barenboim, aufgeführt im Rahmen eines Festkonzerts zum zehnjährigen Bestehen des jüdischen Museums. Nur Barenboim kommt auf die Idee, zu diesem Anlass eine Brucknersinfonie spielen zu lassen. Das ist so, wie bei einem Brahms-Gedenkkonzert mit dem Meistersingervorspiel beginnen und mit dem Walkürenritt schließen – was ja keine schlechte Idee wäre. Und damit zum heutigen Konzert. Ausverkauft. Ich höre Nikolaus Harnoncourt zum ersten Mal. Simon Rattle sitzt im grauen Pulli hinten im Block A. Rattle unterhält sich gestikulierend mit Frau Kozena, sobald die Musik aus ist.