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Julia Kleiter (Sopran), Elisabeth von Magnus (Mezzosopran), Werner Güra (Tenor), Florian Boesch (Bass), Rundfunkchor Berlin (Einstudierung Simon Halsey), Berliner Philharmoniker

Ich war nicht in der 7. Bruckner, dirigiert von Barenboim, aufgeführt im Rahmen eines Festkonzerts zum zehnjährigen Bestehen des jüdischen Museums. Nur Barenboim kommt auf die Idee, zu diesem Anlass eine Brucknersinfonie spielen zu lassen. Das ist so, wie bei einem Brahms-Gedenkkonzert mit dem Meistersingervorspiel beginnen und mit dem Walkürenritt schließen – was ja keine schlechte Idee wäre. Und damit zum heutigen Konzert. Ausverkauft. Ich höre Nikolaus Harnoncourt zum ersten Mal. Simon Rattle sitzt im grauen Pulli hinten im Block A. Rattle unterhält sich gestikulierend mit Frau Kozena, sobald die Musik aus ist. 

Da kommt der hochgewachsene Harnoncourt. Er trägt Frack und Brille. Ich habe ihn als ewig Fünfzigjährigen im Gedächtnis. Sieh da, kein Podest, kein Stöckerl. Diese C-Dur-Messe ist herrlich. Kleiter, Boesch, von Magnus, Güra singen beispielhaft. Der Rundfunkchor singt unüberbietbar beispielhaft. Julia Kleiter, d. h. ihr Sopran gefällt mir. Werner Güra klang in langen Haltenoten ein wenig monoton („Paa-a-aaaa-aaa-a-ter filius“), doch sonst klug und klangschön. Dezentes, doch traumhaft schön gesetztes Orchester (er kann’s halt, der Beethoven). Harnoncourts Messe war besser als Harnoncourts Fünfte.

Was sagt mir die Fünfte? Das erste Allegro: Die Tutti-Schläge (nicht die allerersten) haben was Sportliches, manche (besonders am Anfang) klingen leicht, hölzern, transparent. Beim allerersten Motiv (da-da-da-daaa) fällt das dritte G irgendwie unter den Tisch. Außerdem lässt Harnoncourt das „daaa“ meist ein bissl ausklingen. Weiteres Auffälliges: das Seufzen der hinkenden Bläserfiguren der Durchführung. In der Coda zündet Harnoncourt die gesamte philharmonische Artillerie. Und kein Auslaufen-Lassen im Schlussakkord, wie überhaupt Harnoncourt das Allegro con brio etwas rumpelig und beileibe nicht eilend beginnen lässt, um es in manischer Hast zu beenden.

Bei Albrecht Mayers ehrfurchtgebietendem Oboensolo legt Simon Rattle in Block A die Hand an die Wange. Hatte Mayer schon immer diese goldene Oboe? Nee, wa? Zweiter Satz: Das scharfe Blech klingt harsch, die Bläser sind kürzer angebunden als sonst, es fehlt das übliche klangliche Gewicht. Dritter Satz: kam mir etwas plakativ in den martialischen Partien vor, war nach hinten raus aber herrlich im trockenen, sicheren, detailgenauen Zugriff sowie im solistischen Einsatz. Sowohl in Satz 2 als auch in 3 haben Hörner und Trompeten was Schmetterndes, Ausgelassenes, Unbekümmertes, so à la Freischütz Jägerchor oder Leonorenouvertüre.

Vierter Satz: großartiges Einsetzen, großartig zwischendrin, großartiger Schluss. Das Hauptthema kommt immer ansatzlos, was eindrucksvoll war. Die Durchführungspartien sitzen 1a. Großartige, explodierende Kulminationsstellen. Der Eindruck von Trockenheit, der im ersten Satz da war, ist inzwischen weg. Ich höre etwas vom Schwung, fast von der Grazie, des Finales der Siebten. Heftige Krakeleien der Piccoloflöte. Die Stretta ist ein Schmankerl. Die Streicher schrammeln um die Wette. Die letzten Schläge sind sehr gut, dazu die krachende Pauke im letzten Halteton. Harnoncourt macht nichts futsch. Wie kurz die Fünfte ist.

11 erste Geigen, dahinter die 5 Bässe. Mitte links 6 Celli, zweite Geigen ganz rechts. Die effektvoll traktierte Pauke steht Mitte rechts hinten. Stabrawa Konzertmeister, neben ihm der neue dunkelhaarige Schlaks. Stefan Dohr (der ist ja quasi immer da), Andreas Blau, Stefan Schweigert (man höre die Bewerbung für die Heiligschreibung als Fagottist am Ende des 3. Satzes), Wenzel Fuchs (Pianissimo-Schlenker).

Die Brille reisst sich Harnoncourt zwei Sekunden nach dem Schlussakkord von der Nase und lässt sie gekonnt in der Tasche verschwinden. Er macht alles mit Paritur und blättert immer korrekt um. Damit das Publikum im Finale auch weiß, wann endgültig Schluss ist, breitet Harnoncourt die Arme aus, als wollte er das ganze Orchester umarmen, und setzt mit einer unmissverständlichen Schlussgeste den letzten krachenden Tutti-Rumms.

Was sagt Harnoncourt zur Fünften? Harnoncourt sagt: 1. Satz: Rütteln an Ketten. 2. Satz: Gebet. 4. Satz: Erlangen der Freiheit. „Schicksalssinfonie“ findet Harnoncourt Quatsch.

Und nu? Harnoncourts Fünfte verschaffte mehr Befriedigung als Thielemanns im Ganzen schrecklich getragene Fünfte mit den Wienern vor knapp einem Jahr. Die Erinnerung an Simon Rattles Fünfte von 2006 verblasst schon etwas, Rattle war aber im ersten Satz bedeutend intensiver, im zweiten versunkener, im vierten glühender. Doch im letzten kam mir Harnoncourt ebenbürtig vor. Harnoncourt bringt die Struktur zum Vorschein. Er bringt Details zum Vorschein. Er verachtet übergreifende Konzepte. Er ist ein intelligenter, durchtriebener, mit allen Wassern gewaschener Positivist, als Dirigent ein unprätentiöser und -scheinbarer Extra-Könner. Aber – Rattle fand ich besser.

Mein linker Sitznachbar ist ein kleines Männlein, das seine Beine ausgestreckt hält und keinen Mucks sagt. Mein rechter Sitznachbar sagt: „Ah, ist das schön. Beethoven gefällt mir immer“. Außerdem versucht er mir zu erklären, welche Stelle im 3. Satz der Fünften seine Lieblingsstelle ist. Dabei macht er eine Handbewegung in der Art eines Kunstflugzeugs, das eine trudelnde Abwärtsrolle fliegt. Ich habe nicht verstanden, welche Stelle er genau meinte.

Kritik Nikolaus Harnoncourt: sehr gut