Endlich einmal wieder Mal reggendo, Tacea la notte, Ah sì, ben mio, Il balen und D’amor sull‘ ali hören.
Berliner Staatsoper.
Anna Netrebkos Leonora hat Präzision, Power und Readiness. Der Höhepunkt ist D’amor sull’ali rosee, eine der magischsten Verdiarien überhaupt. Die Sopranstimme ist rund und fest und wird gut geführt, der Ton ist suggestiv, der Klang groß, die Gefühlslinie leuchtet fein-üppig, die Energiereserven scheinen endlos. Das Timbre: inzwischen mehr Matrone als Backfisch. Der Saal ist aus dem Häuschen. Die Brusttöne, eine ihrer Markenzeichen, tönen kraftvoll, doch nie harsch.
Unter den Linden sehe ich Philipp Stölzls Fliegenden Holländer.
Die Inszenierung bietet wenig Regie- und viel Erzähl- und Fabuliertheater. Und kein Video. Dafür arbeitet Stölzl mit zwei Erzählebenen, die sich erstaunlich geschmeidig in Wagners Wortlaut lösen, Dalands trüber Realität und Sentas hochfliegendem Traum.
Senta singt Ricarda Merbeth. Die verströmt mit kraftvollem Sopran hochromantische, zum Fieberwahn neigende Gefährlichkeit. So tönt das Johohohe zu Beginn der Ballade als leise Evokation, hat die Attacke sopranpräzisen Biss, eröffnet sie jede der drei Strophen, wenn ohne Sicherheitsnetz gesungen wird, gestochen scharf, überdies rhythmisch passgenau. Die Stimme hat unten in den letzten Jahren etwas verloren, aber nicht Klarheit, Kontrolle. Die Sopranspitzen sind Eisen- und Stahl-bewehrt. Ist sie nicht die beste Elektra? Klang, jetzt mit Merbeth im Ohr, Grigorians Bayreuther Senta nicht unbedarft, angelernt? Die Schauspielerin der Senta stellt ja eine Mischung aus kindlich Verträumtem und verlümmelt Görenhaftem dar.
Es ist ein Festival der großen Konzeptunterschiede. Bei den Tagen für neue Kammermusik in Witten an der Ruhr stehen Performance- bzw. Impro-Formate von Kreidler, Glojnarić, Tarozzi oder Samawatie im Fokus. Daneben kommen aber auch die „traditionelleren“ Neue-Musik-Styles, wie sie Kishino, Tsao oder Holliger repräsentieren, zum verdienten Zug. Porträtkomponistin ist die kanadische Komponistin Cassandra Miller.
Ich höre über WDR3.
Freitag: Musikfabrik, Ensemble Modern Akademie, Silvia Tarozzi
Das Konzert der Musikfabrik – Motto „Filter“ – versammelt einige Trendsetter der jüngsten Generation. Es tendiert zur hedonistischen Collage, immer fast, immer furious, und meist multiperspektivisch angelegt. Los geht’s mit Scrunchy Touch Sweetly to Fall von Alex Paxton, das klingt super überdreht, immer gut gelaunt, très minimal-music, verstörend nur das infantil enthemmte Aussingen sowie eingestreute Frauenschreie (2023). Das ist witzig und aberwitzig. Ohne rechten Ort bleibt von Lucia Kilger die mild funkelnde UA shavryon (2025), wenn das Ganze auch Ensemble-musikalisch fein abgestimmt wird, hier noisiges Chillen, dort Elektro-Feinripp. Clemens K. Thomas macht in take me to Funkytown Gräueltaten mexikanischer Asshole-Krimineller ästhetisch konsumierbar (2025). Ehrlich, das ist widerlich. Mehr Musikgewinn verspricht Jessie Marino mit no salt auf der Grundlage von Bartóks Violinduo Nr. 23. Per Verlangsamung und Massierung entsteht ein Musikstrom, statisch-träge, aber durchaus geheimnisvoll (2025). Terminally online aliens von Nicolas Berge – auch dies ein Knapp-15-Minutenstück – holt den Holzhammer raus und endet als wilde Sampling-Orgie. Klar ist das absolutely terrific, aber auch etwas öde. Geschmacksache ist und bleibt das einhausende Framen des gesamten Konzerts durch einen kontinuierlichen Sound-Teppich. Friederike Scheunchen leitet das Kölner Ensemble Musikfabrik.
Eine unterhaltsame Tosca mit Kurzak, dem Scarpia von Gallo und Tenor Fabiano. Je älter die blässliche Inszenierung von Alvis Hermanis wird, umso mehr schätzt man, dass Arien und Duette im vorderen Drittel der Bühne, also im Saal bestens verständlich gesungen werden.
Jede Tosca singt anders, jede Tosca spielt anders. Aleksandra Kurzak agiert äußerst lebhaft. Jeder im Saal sieht, welcher Gedanke von Tosca Besitz ergreift, als ihr Blick auf Scarpias Messer fällt. Sie singt Vissi d’arte (das Erstaunen darüber, dass das gute, gelebte Leben in den Schrecken führt) klangschön, mit seelenvoller Empfindung. Leicht dünn das Spitzen-B (Si-gnor), das As dann wieder wunderschön (a-a-a-ah), bevor die Arie ausklingt, wie sie begann, in kostbarem Piano. Kurzaks Ding sind die enthusiastisch intimen Bekenntnisse des ersten Duetts, das Stimmvolumen ist mittel, die Stimmkontrolle superb, das Declamato im zweiten Duett (Trionfal di nuova speme, l’anima freme, 3. Akt) wiegt eher leicht. Sehr gut: Kurzak sticht mit Gusto zu.
Ein wenig ergiebiges Konzert mit Emelyanychew beim DSO.
Energisch, ohne Streicher-Vibrato ertönt Beethovens Sinfonie Nr. 2. Dazu kommt in der Philharmonie eine schneidige Kammerorchester-Attitüde, man setzt auf ausgedünnte Orchestergruppen und pfeilschnelles Tempo. Viel Orchesterschläge, wenig organisches Fließen – und alles Taktstock-los. Will heißen: Ruppigkeit ohne Wenn und Aber. Dumm nur, die Orchesterschläge tönen unangenehm belehrend. Ihr kernhaft festes Krachen ist im Sekundentakt zu hören. Krächz-Schrappel-Wumms. Krächz-Schrappel-Wumms.
Dabei geht bei op. 36 so ziemlich jede Fähigkeit zu weiträumigem Spannungs-Fluktuieren verloren. Ist halt blöd, wenn die Musiker bereits in der Exposition pausenlos zum Thrill-Maximum gedroschen werden. Und wenige Minuten später die markanten Motivgestalten in Durchführung und Reprise in mechanistischem Dauer-Hecheln eingeebnet werden. Das ergibt null gestufte Zeitgestaltung, das ist verblüffend unsensibel gegen die individuelle thematische Prägung.
Lohengrin und Tannhäuser sind an der Bismarckstraße interessanter, Holländer, Meistersinger und Ring Unter den Linden. Parsifal funktioniert an beiden Häusern. An der DO inszenierte Stölzl Wagners Weihewerk ironisch monumental, an der SO Tscherniakow endzeitlich skeptisch.
Der Gurnemanz des René Pape ist ein Ordensmann in den besten Mannesjahren. Pape singt die Titurelerzählung besonnen, den Tadel nach dem Schwanenschuss kraftvoll empört, den Ergriffenheitsausbruch von O wunden-wundervoller heiliger Speer glaubhaft. Man hört einen lyrisch dringlichen Gralsritter. Pape agiert immer nah an der Ideallinie. Es ist ein Singen von wild-schöner Innigkeit. Das Wagnerische Cantabile realisiert der Sänger mit gerundeter Sanftheits-Fülle, mit scheu-männlichem Ausdruck. Der Rest ist Pape-Business as usual: der kernhaft feste Ton der Vollstimme, die vorbildliche Wort-Ausdeutung – bis hin zu feinsten Nuancen der Diktion, bei insgesamt ingeniöser Verquickung von Sprechgesang und vaterländischem Belcanto.
Endlich einmal wieder Verdis düsteres Melodramma Unter den Linden.
Die Besetzung ist gut, das Dirigat nicht, die Inszenierung Geschmackssache.
Simon Boccanegra ist eine Oper über die unlösbare Verquickung von Macht und Gefühl. Wie meist bei den Helden des mittleren Verdi, so stürzt auch der genuesische Doge Boccanegra über Verstrickung in frühere Schuld.
Tézier sagt alle Vorstellungen ab. Der Rumäne George Petean springt ein. Er singt, blendend aussehend, die fordernde Titelpartie hellklangig, tonschön, mit schönem Legato, wunderbar konzentriert. Vieles, etwa Figlia, a tal nome, kann man kaum besser hören. Das deklamatorisch ausfahrende Plebe! Patrizi! im großen Finale des 1. Akts singt Petean, einer der wichtigen Verdi-Sänger dieser Jahre, ohne Tadel, doch die pace!amor!-Rufe ohne die Energie einer Proklamation. Petean ist weniger agitatorischer Volkstribun, mehr Vater, mehr Ästhet der Macht.
Die Perücke von Elena Stichina dürfte mehr wiegen als die Schwerter aller patrizi zusammen. Ihr Gesang setzt auf schöne Linien, die Stimme auf weiche Leuchtkraft. Am besten ist sie in den Ensembles, wo sie sich gegen Sartori gut behaupten kann. Gleichwohl packt der Vortrag selten. In Come in quest‚ora bruna hört man eine einförmige Emotion (in Wolken der Unbestimmtheit gehüllte Melancholie) einförmig auf die Noten verteilt. Ich wette, Desdemona oder Forza-Leonora klingen bei ihr gleich.
Thielemann bei der Staatskapelle im Großen Saal Unter den Linden. Bruckners Sechste zählte vor einiger Zeit noch zu den weniger gespielten Sinfonien.
Zuerst der Kopfsatz. So schlüssig gibt es den selten: Wie der austariert wird zwischen übergeordnetem Verlauf und dem Detailgeschehen in den verschiedenen Themenabschnitten. Höhepunkt sind da entweder der A-Dur-Durchbruch der Reprise oder die Coda. Heute ist es die Reprise in voller Ausinstrumentierung, mustergültig eingeleitet von der „falschen“ Es-Dur-Reprise. Christian Thielemann leitet und lässt die Themen klangintensiv ausspielen, was wirkungsvoll kontrastiert wird mit den langen Aus- und Abklangphasen, als lägen diese fast außerhalb der Stückprozessualität. Die Trompeten erhalten Erlaubnis zu schmettern. Bei den mit Volldampf genommenen Kulminationsstellen mit ihren Stimmschichtungen kämpfen die Musiker heroisch um perfekte Koordination.
Strauss‘ Intermezzo inszenierte Tobias Kratzer 2023 mit Hang zu überdrehter Blödelei. In Tobias Kratzers Regiearbeit zu Arabella (Premiere 2022) ist das anders. Arabella ist ruhiger. Ernster.
Zwar stören die penetranten Videos (öde: Jonas Dahl). Doch die Figuren in Strauss‘ Lyrischer Komödie gedeihen, und durchaus nach Maßgabe von Hofmannsthals Libretto-Dichtung. Da ist Arabella, die immer menschlich strahlender wird. Da ist der alte Waldner, dem der Regisseur trotz Spielsucht Würde und Charakter belässt (klasse Pesendorfer). Da ist Mandryka, dessen derbes Rumstänkern nach dem vermeintlichen Treubruch Arabellas das arme Häuflein Mensch erst ermöglicht, das Arabella im Finale dann das Verzeihen erlaubt.
Jeder Akt hat ein eigenes Bühnenbild: die gedoppelten Hotelsalons der 1860er, der schmale Flur vor dem Tanzsaal, die leere Weiß-Bühne.
Es gibt leichter konsumierbare, aber kaum verrücktere Opern als Die Ausflüge des Herrn Brouček von Leoš Janáček, die nun Premiere an der Staatsoper Berlin feiern. Als spektakuläre Folge von durch Alkoholgenuss initiierten Fantasiereisen ähnelt Janáčeks Textbuch den Contes d’Hoffmann von Offenbach. Und was Offenbach sein Dichter E.T.A. Hoffmann war, das ist Janáček sein griesgrämiger Rentier Brouček. Denn der reist dank zahlloser konsumierter tschechischer Biere von Prag aus zuerst auf den Mond und dann ins Mittelalter der Religionskriege.
Doch so turbulent und verrückt die Handlung ist, so unkonventionell ist der Rest: Auf altbewährte Tricks für zündende Libretti verzichtet Janáček.
Reines Mendelssohnprogramm im Großen Saal der Staatsoper.
María Dueñas spielt das Violinkonzert op. 64 hinreißend. Ihr Spiel ist klangvoll. Dueñas ist wunderbar talentiert, in einem Maße, wie das bei Hadelich der Fall ist.
Ich hatte echt Bammel vor Dueñas. In Paris unter Mikko Franck gab sie das e-Moll-Konzert quälend übermotorisiert, das klang selbstverliebt, und die Arpeggienstelle beim Repriseneintritt tuckerte damals wie ein derber Zweitaktdieselmotor, das Andante war Soap Opera pur. Und dann heute: Sie kommt, sie spielt. Heute Abend gibt es nicht Dueñas mit ein bisschen Mendelssohn, sondern Mendelssohn mit viel Gefühl, aber auch mit viel (Kunstsach-)Verstand.
Statt Stress mit der Politik bietet das RSB-Konzert am Wahlsonntag einen neuen Blick auf Naturphänomene wie Frühlingsstürme und Libellen.
Oder auf hohe Temperaturen. Denn das sechsminütige Stück Heliosis von Hannah Eisendle schildert offenbar unerträgliche Hitze (2021, deutsche EA). Und landet, weil jenseits der lärmenden Klang-Fassade eher simpel gestrickt, schlussendlich irgendwo zwischen Strauss‘ Schleier- und Chatschaturjans Säbeltanz. Mehr Unterhaltung bietet das Violinkonzert der Schwedin Tebogo Monnakgotla, Untertitel Globe Skimmer Surfing the Somali Jet (Übersetzungsvorschlag: „Die Wanderlibelle lässt sich auf der Luftströmung ‚Somali Jet‘ treiben“). Aber es ist auch länger, farblich reich, delikat, was Details, Strukturen angeht. Aber kontrastarm. Der (natürlich falsche) Eindruck ist der, dass Solist Johan Dalene nur Arpeggien spielt. Meine Konzentration lässt genau da nach, wo der offenbar ähnlich empfindende Typ in Block A rechts während der Kadenz-artigen Arpeggienstelle hustet.
Kürzungen für Kultur? Sämtliche Kulturschreibenden in Berlin waren in heller Empörung. Was ich denke, ist nur eine Einzelmeinung. Aber:
Braucht man acht Opernpremieren pro Saison? Ich wäre auch mit vier zufrieden. Lieber die Laufzeit von Opernproduktionen erhöhen. Lieber die Wegwerf-Mentalität von Opernintendanzen eindämmen. Wie viele Inszenierungen von Götz Friedrich laufen in Berlin noch?
Sind all die neuen Festivals wirklich nötig? Biennale bei den Philharmonikern („Unser Planet ist in Gefahr“), Healing beim DSO („Die aufgeführten Werke sind von meditativer Ruhe geprägt“), Projections im Konzerthaus („Dichterliebe recomposed“). Und dann gibts doch nur wieder Pastorale und Parsifal.
Im Konzerthaus gastiert Yefim Bronfman mit Brahms‘ forderndem KlavierkonzertNr. 1d-Moll. Johannes Brahms, in seinen frühen, mittleren Zwanzigern, hatte bei der Komposition bekanntlich seine liebe Not. Die haben – bei der Interpretation – freilich auch heutige Pianisten.
Wie der usbekisch-gebürtige, US-amerikanisch-israelische Pianist das beim RSB macht, ist verblüffend. Sein Spiel hat Größe und Selbstverständlichkeit. Dazu kommt ein typisch schwerer Anschlag, in dem sich Nüchternheit und Wärme mischen, hörbar beim zweiten Thema mit seinem zweimaligen Aufsteigen.
In der Philharmonie spielen die Berliner und der Geiger Zimmermann Elgars dreisätziges Violinkonzert. Das steht in h-Moll, ist höllisch lang, und erfrischend konventionell, was Satzfolge und -charaktere angeht. Aber lange zehn Minuten dauerts, bis im ersten Allegro Orchester- und Soloexposition geschafft sind. Die Kadenz setzt Elgar – ungewöhnlich – ganz an den Schluss. Selbstverständlich ist das Opus 61 wunderschön. Schwung und Flow der ersten, Schmelz und Schmalz der zweiten, lyrischen Themen sind unwiderstehlich, der Geigenpart ist bis in die Figurationen hemmungslos gut.
Wie spielt Frank Peter Zimmermann? Erst Mal klingt der Elgar kurzatmig (Kopfsatz) bis detailreich (Finale). Auf Leidenschaft wird verzichtet. Ebenso auf expansive Phrasierung. Deshalb ähnelt Zimmermanns Spiel dem von Capuçon. Aber der Ton ist präsenter, das Vibrato selbstbewusst, die Mischung aus hochsouveränem Können, Ironie und hart erarbeitetem Temperament gehört zu 100% Zimmermann. Der Deutsche spielt das Konzert, wie sonst niemand. Fast zelebriert er das Einmünden in die Reprise: zersplitternde Geigenfigurationen, während im Orchester das Thema à la Mendelssohn zurückkehrt. Das tönt diesseitig Pomp-befreit, frei von belle époque-Wehmut.