Die Meistersinger-Premiere bei den Bayreuther Festspielen 2017.

Der wilde, assoziative Berliner Regiestil schwappt von Zeit zu Zeit als unvorhersehbare Flutwelle nach Bayreuth. Erst Castorf mit dem Ring, jetzt Kosky mit den Meistersingern.

Wenn der Herr und Herrscher der Komischen Oper Berlin, Barrie Kosky, am sogenannten Grünen Hügel Regie führt, dann dräuen fürwahr üble Regie-Streiche. Zum Festwiesenfinale, im leergeräumten Gerichtssaal von Anno 45, bannt der erklärte Wagner-Verächter Kosky dann aber doch gute Geister. Denn bevor der Vorhang fällt fiedelt sich die deutsche Hochmusikkultur geradewegs in die Erlösung. In Form eines Orchesters, hinter dem sich der großartige Festspielchor verbirgt. Unter Heilrufen. In biederstem C-Dur-Pomp.

Die Kunst, heilt sie die Wunden, die Real- und Rezeptionsgeschichte der Oper schlugen? Die Wagner ihr selbst schlug? Ist das Koskys hehres Schlusswort zu Wagners komplexer Meistersinger-Oper? Gemach, gemach.

Begonnen haben Koskys Meistersinger als fideler Gaudi. Da öffnet sich zu den Klängen des Vorspiels bühnenfüllend der eichengetäfelte Salon der Villa Wahnfried mit Beethovenbüste, Flügel und dichtbesetzter Bücherwand. In solch schummriger Bildungsbürgerhöhle halten nun Wagner und Cosima eifrig-eitel Hof (Bühne: Rebecca Ringst). Und da trudeln auch schon Liszt und Hermann Levi, jüdischer Uraufführungsdirigent des Parsifal, ein. Flugs setzt Wagner sich an den Flügel. Dem entkrabbeln unversehens jede Menge Jung-Wagners. Zwischenfrage: Schälte sich nicht schon 2007 bei Katharinas Meistersingern ein Meistersänger aus dem Klavier? Ja doch. Allmählich wird klar: Wahnfried ist Nürnberg, Sachs ist Wagner. Und Eva ist Cosima, Pogner Liszt, Beckmesser der bärtige Jude Levi. Und dann auch noch das: Auch Stolzing ist Wagner, nur eben jünger als Sachs. So volatil steht’s in dieser Oper um Identitäten und Individuen. Alles hängt mit allem zusammen. Sagt Kosky.

Wenig später hupfen die Lehrbuben wie die Sieben Zwerge durch die Villa Wahnfried. Die Meistersinger setzen dem Kostümstadl noch die Krone auf, die klamaukeln sich nämlich als depperte Boygroup in altdeutschen Puffärmeln und Dürerlocken durch den ersten Akt und fressen Nürnberger Lebkuchen. Die Bayreuther Festspiele als Oberwagnergau. Tiefer wurde in Bayreuth selten in die Kostümklamottenkiste gegriffen (Kostüme: Klaus Bruns). Und höher nie auf die Meta-Ebene gezielt. Denn Barrie Kosky denkt sich natürlich immer was Gescheites. Zu viel Tiefgang hat noch selten geschadet. Aber ob das jeder mitbekommt? Wer wann vom Wams in den Gehrock wechselt, das vermögen selbst Wagner-Beflissene vermutlich erst nach der vierten Vorstellung zu sagen. Dennoch liefert Kosky immer wieder Erhellendes. So als Wagner den Dirigierjuden Levi zum Gesang der Katharinenkirchgemeinde demütigend auf die Knie zwingt. Das fügt dem Bayreuther Premierenabend doch ein so noch nicht erlebtes Salzkörnchen Wagner-Wahrheit hinzu.

So ist Koskys Witz und Ernst durchaus des Zuschauers Vergnügen und Muße. Das ändert sich auch nicht, als der Verhandlungssaal der Nürnberger Prozesse seinen großen Auftritt bekommt (Ende 1. Akt). Gewitzte Zuhörer könnten glatt auf den Gedanken kommen, in den folgenden zwei Akten würde den Meistersingern, dieser deutschesten aller deutschen Nationalopern, der Prozess gemacht. Doch Kosky wäre nicht Kosky, ginge es nur um das Plattmachen von Traditionen. Kosky geht’s ja auch um die Kunst. Kosky ist einer, der aufbaut. Der dem Zuschauer seine prächtige Regie-Pranke reicht, auf dass dieser sich einlasse, sich bezaubern lasse. Und damit zurück zum Nürnberger Gerichtssaal. Nachdem die erste Aufregung sich gelegt hat, läppert sich die Handlung leider durch die restlichen zweieinhalb Stunden Musik – Koskys Pranke hin oder her. Gerät der erste Akt optisch noch unsäglich muffig und unverblümt klamottig, wird im zweiten Akt der ominöse Gerichtssaal mit Auslegerasen renaturiert, um als Ort für Fliedermonolog und Prügelfuge zu dienen. Über die Geschichte ist scheint’s Gras gewachsen. Und bis Hans Sachs mit seinem Plädoyer für die Heil’ge deutsche Kunst in den Zeugenstand tritt, ist es noch eine Weile hin.

Denn erst im dritten Akt schließt sich der Kreis. Sachsens wenig lauschige Studierstube weitet sich zur Festwiese und bleibt doch jener Schwurgerichtssaal 600 von 1945, hier sitzt das Volk und hält lärmend, lachend und lüstern Gericht. Beckmessers peinvolles Versingen wird von Kosky so klischeebeladen wir nur je ausgestellt. Nach Stolzings betörendem Preislied verschwinden die Flaggen der Alliierten wie von Geisterhand, als wäre alles Vorangegangene nur Chimäre gewesen. Wieder eine neue Stück-Perspektive? Eine neue Volte von Hans Sachs‘ Alter Ego R.W.? Schlussendlich steht der Sachs dann doch da, als Glaubenszeuge und Märtyrer, ist wieder ganz und gar jener fanatische, deutsche Komponist Richard Wagner, dirigiert fidel und verbissen den Schlusschor Ehrt Eure deutschen Meister, die Bühne ist menschenleer, nur ein Orchester spielt und ehrt die deutsche Kunst. Das ist schon arg hintergründige Wagner-Operette, tiefernst und süffig seicht zugleich. Das kann Kosky. Da klappt’s dann auch mit dem großen Bogen, nicht was einzelne Details angeht, da bleiben viele Fragen offen. Aber was das Spannungsfeld zwischen Wagner-Tümelei und der Wagner-typischen Doppelbödigkeit angeht. Kosky, selbst Jude, inszeniert das Dilemma, das die Meistersinger heute für jeden halbwegs ernstzunehmenden Regisseur darstellen, an einer Stelle hellwach und triftig, an anderer Stelle verspielt und Lustspiel-verliebt. Jüdische Clichés gibt es ohnehin zu Hauf. Früher in diesem Jahr 2017 sagte Kosky noch: „Ich bin fertig mit dem Mann.“ Kosky meinte Wagner. Das war natürlich schamlos übertrieben. Mit dieser Meistersinger-Inszenierung sind Kosky, Bayreuth und wir elende Wagnerianer noch lange nicht fertig.

Gespielt wird übrigens mit wohleinstudierter, gerne auch übertreibender Gestik und feiner Charakterzeichnung (Dramaturgie Ulrich Lenz), Personenführung und Chorregie sind ausgefeilt.

Die Sänger: Volle ist Sachs, Vogt ist Stolzing, Behle Beckmesser

Der brave Biedermann Sachs, der klug resigniert, erhält durch Michael Volle große schauspielerische Statur. Aber Volle spielt nicht nur so, er singt auch so, mit der Autorität eines so subtilen wie mächtigen Textausdeuters. Wie er singt, mit heftig sprachbetontem Akzent, gestaltenreich, kernig deklamierend, wie er mit plastisch-rhetorischer Deutlichkeit und sehr nuanciert durch die stundenlange Partie hand- und fuhrwerkt, das ist hohe Sängerkunst. Volle schmeckt den Silben suggestiv nach, und wie gestisch beweglich, wie lebensvoll steht dieser Sachs auf der Bayreuther Bühne. Freilich ist das wenig geschmeidiges Singen, an angelsächsischen Gepflogenheiten geschulte Ohren können des Sängers Legato holprig und hölzern nennen. Und das vokale Agieren ist mitunter hart am Chargieren. Dennoch: Die dramatischen Phrasen gelingen ausladend. Der Wahnmonolog, Herz und Seele jeder Meistersinger-Oper, ist getränkt von grüblerisch kantiger Wehmut. Auch das ist Volles Verdienst. Und auch die Schlussansprache bewältigt Michael Volle bewundernswert souverän.

Der Stolzing des Klaus Florian Vogt punktet mit rhetorisch natürlichem und flexibel nuanciertem Singspielton. Dieser Stolzing ist ein Träumer, sein Gesangston pendelt zwischen naivem Schuljungenton und zauberischem Märchenton hin und her. Sowohl die Selige Morgentraum-Deutweise wie auch das Preislied erklingen in unendlich textklarer, klanglich äußerst tragfähiger Mezzavoce, und doch alles andere als mühelos. Auch Anne Schwanewilms ist als Eva darstellerisch präsent, bisweilen überdreht, zickig und süß im zweiten Akt, fraulich leidenschaftlich im dritten Akt, auf der Festwiese hart an der Grenze zur Karikatur in ihrem mega-biederen Miederkleidl. In der Schusterstube fehlen Schwanewilms‘ Sopran zuerst Frische und Brillanz, da klingt er trocken und angestrengt. Doch im Quintett Selig wie die Sonne tönt’s mit einem Mal warm, beredt und versonnen verströmt.

Ein honoriger Pogner ist Günther Groissböck. Daniel Behle singt den David leicht und lyrisch, Wiebke Lehmkuhl die Magdalene mit kräftiger, farbreicher Altstimme. Als Sixtus Beckmesser überzeugt Johannes Martin Kränzle mit energischer, wandlungsfähiger Stimme. Im zweiten Akt singt er das Ständchen rhetorisch imponierend, doch gewagt in der sängerischen Geste, fast outrierend und heftig karikierend. Auf der Festwiese sieht er mit Zottelpelz und goldener Meisterkette wie ein Alter bei Rembrandt aus – oder wie eben ein Ostjude aus Streichers Stürmer. Die Meistersinger, diese alten Säcke, jene putzigen Hüter der echten deutschen Tradition, fallen bei Kosky noch erbärmlicher aus als sonst. Es singen  Tansel Akzeybek (Vogelgesang), Armin Kolarczyk (Nachtigal), Daniel Schmutzhard (Kothner), Paul Kaufmann (Zorn), Christopher Kaplan (Eisslinger), Stefan Heibach (Moser), Raimund Nolte (Ortel), Andreas Hörl (Schwarz), Timo Riihonen (Foltz). Den Nachtwächter singt aus dem Off Georg Zeppenfeld.

Orchesterleitung: Philippe Jordan

Die musikalische Leitung liegt bei Philippe Jordan. Das Vorspiel zum ersten Akt gerät frisch und hemdsärmelig, fast könnte man angesichts des  Trubels auf der Bühne sagen unkonzentriert. Flüssig und nervös, biegsam und diesseitig tönt das. So viel lässige Polyphonie war selten in den Meistersingern. Und dann führt Jordan das Festspielorchester mit Pepp und Glanz und Gloria, aber auch mit feinem Komödienton, abschattiert zum Kammermusikalischem. Umsichtig bewahrt sich Jordan nach zwei Seiten vor wackerer Wagner-Tümelei: Er ist weder zu feinsinnig noch zu deutsch-beschwert. Kurios die Generalpause im Fliedermonolog, und auch jene in Morgenlich leuchtend (in der Schusterstube des dritten Akts) dehnt sich verstörend lang. Schön die Lockerheit der Linien, die Lockerheit des Stockens beim Wahnmonolog. Wenn Jordans Dirigat freilich vorteilhaft in Richtung Komische Oper drängt, so fehlt an einigen Ecken die Bogenspannung, schrammen laute Passagen hart am Lärmen vorbei, geht mancher Zauber zu rasch vorüber (Quintett, Eröffnungsmusik zur Festwiese). Die Chorleitung obliegt Eberhard Friedrich, der Chor singt hervorragend.

Gehört auf BR-Klassik.


Premierenkritiken zu Wagners Meistersinger von Nürnberg bei den Bayreuther Festspielen 2017:

Nachts im Nürnberger Gerichtssaal“ (Welt)
Der Antisemit mit der schönen Musik“ (nachtkritik.de)
Wagners Meistersinger als grimmig-lustige Geschichte in Bayreuth“ (Deutsche Welle)