Der Berliner Musikdezember ist bei weitem besser als das Berliner Dezemberwetter.

Stéphane Denève dirigiert beim DSO Elgar, Roussel und Ravel, und bei Elgars Cellokonzert sitzt der junge Brite Sheku Kanneh-Mason am Instrument. Da Stephane Denève wie ein hartgesottener EU-Brexit-Unterhändler gegen jede Art von aus der Zeit gefallenem Viktorianismus zu Felde zieht, erklingt Elgars Altersmeisterwerk mit einer leicht nüchternen Note. Die viersätzig-suitenhafte, von zusätzlichen Rezitativ-Introduktionen bereicherte und zugleich von Satzungleichgewichten belastete Form fasziniert mich auch heute. Weitere Interpretationstendenzen: Solist und Orchester drängeln in den raschen Sätzen (Scherzo im 4/4-Takt und Finale). Dafür lässt Sheku Kanneh-Mason das Cello in den beiden Adagio-Sätzen gefühlvoll singen.

Der Ton des Briten hat sehnige Energie. Aber er ist nicht übermäßig reich. Nach der Pause Roussels Ariane et Bacchus, das durch Farben von kühlem Messing und großherzigen Klangsinn bezirzt. Dirigent Denève ist kein Sensibelchen, aber das Orchester spielt beherrscht und zart. Ich bin ausdauernder Roussel-Hörer. Aber ich habe mir seit einiger Zeit geschworen, für ein paar Jahre keine Daphnis et Chloé zu hören. Nacherleben kann man das Konzert ganz einfach hier auf Deutschlandfunk. Wo ich das Ganze am Dienestag höre.

Denn am Sonntag sitze ich in Samson et Dalila in der Staatsoper in der sehenswerten Inszenierung von Damián Szifron. Garanča sagt alle Vorstellungen ab. Barenboim sagt alle Vorstellungen ab. Eine Freude ist das nicht. Die einspringende Anna Lapkowskaja singt tapfer gegen die freundlichen Zumutungen von Saint-Saëns‚ Musik an. Guggeis dirigiert intelligent gestrafft und fein Impuls-gestaffelt. Vom Französisch des Chors verstehe ich kaum ein Wort. Schager, der zeitgleich Unter den Linden den Lohengrin interpretiert, findet als Samson nachdenkliche Töne. Und am Donnerstag will ich in den Liederabend von Jekaterina Sementschuk im Boulezsaal. Aber die Lieder und Tänze des Todes sind mir schlussendlich vier Nummern zu düster für einen ohnehin schon trüben Berliner Dezember. Eigentlich schade. Этакая неудача!

Dann gibts den Auftritt von Andris Nelsons bei den Philharmonikern. Irgendwie und irgendwann ist das beflissen feinsinnige Werk Maria Anna, wach, im Nebenzimmer des Letten Jüri Reinvere ins Programm gerutscht. Es ist eine Hommage an Mozarts als „Nannerl“ bekannt gewordene, ältere Schwester. Der kurze Applaus korrespondiert mit der Kürze des Stücks. Die Musiker nehmen das Erscheinen des Komponisten auf dem Podium mit angestrengt unbewegten Mienen zur Kenntnis. Den Mieczysław Weinberg (Trompetenkonzert, routinierter Sowjetstil, muss man nicht öfters hören) bläst Håkan Hardenberger, der noch jeden Luftstoß in anregende Schwingungen versetzt. Gespielt wird im Orchester aufregend klar. Seidenzart glimmen die Geigen. Ich höre Digital Concert Hall

Das Frühlingsopfer von Strawinsky schallt unter Nelsons kompakt. Weitere Interpretationstendenz: Der lettische Dirigent bürstet die thematische und motivische Üppigkeit des Stücks glatt. Es ist keine feinsinnige Deutung. Das Tutti tönt träge, schleppt etwas (Ende Danse des Adolscents). Nelsons Ästhetik: die Reizlosigkeit des Holzblocks. Unter Monteux im Théâtre des Champs-Élysées, Mai 1913, ein gutes Jahr bis zum Krieg, klang es sicherlich französischer.

Aber auch Rattles expressive Dumpfheit, die immer auch Attitüde war, ist weit weg. Nelsons überzeugt in den Details. Im trüben Schein, der in der Introduktion zu Teil II herrscht, und in den wie in Holzwolle gepackten Hörnern in den Cercles mystérieux. Im Konzertsaal, ohne Ballett, hört sich Sacre du Printemps immer wie eine etwas umständliche, aber sehr genaue Anleitung zur rituellen Frauentötung an. Klangliche Delikatesse ist bei Nelsons nicht gewollt. Meine Lieblingsminuten sind immer die vom kurzen Jeu du rapt und vom fröhlichen Jeu des cités rivales. Wenn Nelsons so weitermacht, sieht er in fünfzehn Jahren aus wie Pavarotti 1990. Ich würde sofort in den James Bond gehen, wenn Kontrabassist Matthew McDonald die Titelrolle bekommen würde.

Ich gehe seit einiger Zeit nicht mehr gerne in die Philharmonie. Akustische Gründe, wurde mir aber auch unsympathisch, u.a. wegen der seit einigen Jahren herrschenden, Gated-Community-ähnlichen Zugangskontrollen zu Block A.


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