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Herzschlagfinale beim Musikfest! Zwei Mal Neue Musik, zwei Mal jede Menge Hörgenuss, 9 Stücke, 4 Komponisten, 3 Uraufführungen (ist kein Qualitätskriterium, erhöht aber die Spannung). Am Dienstag bündelt die Karajan-Akademie unter Enno Poppe einen spannenden Abend mit neuer und neuester Musik, am Mittwoch stellen Mitglieder der Berliner Philharmoniker unter Stanley Dodds eine feine Rihm-Hommage auf die Beine.

Milica Djordjević, Jahrgang 1984, heißt der Dreh- und Angelpunkt am Dienstag. Zwei Uraufführungen schlagen zu Buche, die erste rechtfertigt den jungen Ruhm der Komponistin, die zweite bleibt blass. Zuerst Transfixed, das als düstere, klangverklebte Walze beginnt. Faszinierend, wie sich aus fünf Blöcken ein massiv vorwölbender, mit überfallartigen Trompeten gespickter Klang formt. Drei Minuten dauert der Spaß. Das Stück weiß, was es will, hat Dichte, Drama, ist schmutzig, laut und doch subtil. Konventioneller gibt sich Transfixed‘, eine alles in allem tuttifrutti-bunte Safari aus Knirschgeräuschen, interessant nur der geschärfte Ton sowie der Eindruck zerkratzter (Klang-)Oberflächen. Ein Hoch auf die Kürze zeitgenössischer Musik: Transfixed‘ (mit Strich!) bringt es auf fünf Minuten. Gut doppelt so lang ist das intensive Rdja (2015). Der Mahlwerk-artige Prozess, der hier fröhlich losgetreten wird, ähnelt stark Transfixed, scheint von Innen bedingtes Idiom und Markenzeichen zugleich. Dazu tritt ein Sog aus vibrierenden Streicherlinien und die mit Klangsplittern von gläserner Schärfe gespickte, enorm dichte Plastizität. Der Djordjević-Schwerpunkt hat es jedenfalls in sich.

Der Britin Rebecca Saunders begegnen Musikfest-Besucher womöglich zum wiederholten Mal. Heute ist die Komponistin mit Fury (2005) für Kontrabass solo (mit allen Klangknetungen und -verknotungen gespielt von Alexander Arai-Swale) und dem ganz hell und frisch klingenden, jede Sekunde fesselnden Cinnabar (1999) vertreten. Geige spielt Ania Filochowska Violine, Trompete Markus Mayr.

Enno Poppe leitet die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, schlaksig, fast linkisch wirkend, dabei genau, bisweilen tänzelnd, verbindet unbedingte Sachlichkeit mit unbedingter Leidenschaft.

Schließlich dirigiert Enno Poppe Poppe. Für Koffer (2012) wird die Karajan-Akademie auf 17 Spieler erweitert, die leuchtend blaue Ricordi-Partitur auf dem Pult strahlt mit dem rotem Schopf des Dirigenten um die Wette. Geht Saunders vom einzelnen Ton aus, orientiert sich Djordjević an zu dramatischer Dichte komprimiertem Wummern, so baut Poppe aus Kurzmotiven kumulierende Entwicklungen, die zwingend symphonisch wirken. Die Synthesizer-Stelle markiert Neustart und Schaltstelle. Jazz- und Populärmusik-Elemente werden in den Sog eingeschmolzen, dabei bleibt Poppe immer auch einer, der ein Wahnsinns-Gefühl für Architektur, für weite Bögen und fluktuierende Verlaufs-Dramaturgien hat.

Rihm-Werkschau: Gerhaher, Zimmermann, Philharmoniker

Keine zwanzig Stunden später geht es weiter. Gerhaher, Zimmermann und bis zu neun Berliner Philharmoniker nehmen Rihm unter ihre Fuchtel. Bin ich ziemlich allein, wenn mir Wolfgang Rihms abgeklärte Werke seit den 90ern besser gefallen als seine subjektivistischen, frühen? Spähre nach Studie (1993/2002) ist so ein abgeklärtes Stück. Assoziative Formverläufe prägen es, alles scheint irgendwie meditativ gedämpft, und je länger es dauert, umso epischer wirkt es. Schlichtweg hinreißend ist Male über Male 2 (2008), 5 Streicher, 2 Harfen, Klavier, Perkussion, Klarinette (Jörg Widmann), vier Sätze. Leitmotivischer Formkern ist die halbtönig auf und ab glissandierende Haltnote der Klarinette. Das schlackenlose Stück, das weniger Prozess als Zustandsbeschreibung ist und dennoch pausenlos einen unendlichen Raum öffnet, hätte ewig dauern können (Klavier: Tamara Stefanovich, Anschlag wie ein Peitschenhieb von Zorro).

Corona: die unaufdringliche Leere der Foyers

Aber am interessantesten ist sicherlich die Uraufführung Stabat Mater für Baritonstimme und Bratsche, ein Auftragswerk des Musikfests und der Berliner Philharmoniker. Mystisch-mittelalterlich und erzkatholisch mischen sich in den zehn Doppelstrophen Mutterschmerz und Sohnestod – dafür wirkt die Komposition wiederum erstaunlich sachlich, ja, objektiv, um nicht gar von „zeitlos“ zu reden. Und doch ist bei Christian Gerhaher und Tabea Zimmermann leidenschaftliche Hingabe an (lateinisches) Wort und (Rihms) Musik. Frau Zimmermann führt ihre Bratsche markant, plastisch, mit einem Schuss Tinte im Timbre, dazu Herr Gerhaher, der die weiten Intervalle legatoleicht nimmt, dass es eine Freude ist, sich inflammatus zeigt, wenn schon nicht für die virgo virginum, so doch für Rihms karges, austarierendes Komponieren, vor allem, da Gerhaher klug die Mitte hält zwischen rhetorischer Inständigkeit und Schönklang der Stimme.

Die Akustik in der corona-leeren Philharmonie ist exzellent. Hell und klar ist das Klangbild, zwar fehlt das Dunkle, aber jedes Detail des Vibratos von Viola, Bläser oder Bartion ist in verblüffender anatomischer Korrektheit zu vernehmen.

So, nach zahllosen Stunden Neuer Musik höre ich in den nächsten 72 Stunden 20 Mal Oistrach mit Valse-Scherzo, dann 20 Mal Kogan mit Méditation, jeweils vom großen Tschaikowsky, und dann vielleicht noch Heifetz mit Sérénade mélancolique, auch von Tschaikowsky. Und am Sonntag geht’s ins Radialsystem zum Zafraan Ensemble, Schönberg bis Poppe.