Da heute weder Tosca an der Staatsoper noch Bohème an der Bismarckstraße laufen, gönne ich mir einen netten Livestream aus dem BKA-Theater. Es spielt das Ensemble LUX:NM: fünf kürzere Stücke plus nettes Gequassel von Silke Lange (Akkordeon) und Ruth Velten (Saxophon). Die restliche LUX:NM-Besetzung umfasst: Posaune, Cello, Klavier, Elektronik.
Die Südkoreanerin Gitbi Kwon (Jahrgang 1992) sagte mir bisher gar nichts. In dem schmalen Werkchen (dreieinhalb Minuten) für Posaune Solo mit im Dämpfer versteckten Zuspiel – Titel: Zweisam (2021) – schmieren die Linien so schön entspannt ab, und die Stimmkreuzungen haben alle Zeit der Welt. Ich weiß gar nicht, ob da viel dran ist. Ich finds schön. Tontrübungen und Timbreheiserkeit sorgen für das Salz in der Posaunen-Suppe. Florian Juncker am Instrument.
Wer hätte es gedacht? Prall gefüllt präsentiert sich das sinfonische Wochenende in Berlin. Und plötzlich liegen nach den neuesten Ankündigungen wieder Konzertbesuche im Bereich des Möglichen – falls die Inzidenzzahlen sinken. Her mit den Konzerten für Geimpfte und frisch Getestete! Alles ist besser als keine Konzerte. Apropos prall gefüllt: Binnen 24 Stunden spielt das DSO im Radiokonzert, das Konzerthausorchester frei auf Arte, und die Philharmoniker streamen als Bezahl-Konzert.
Außerdem sendet die Universität der Künste am Freitagabend live. Wenn ich in den vergangenen Saisons Frühlings- oder Kreutzersonate hörte, dann in einem der Vortragsabende von UdK oder Hanns-Eisler-Hochschule. Am Freitag bewundere ich Victoria Wong in sehr guter Ton- und Bildqualität aus dem Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Bundesallee mit der Bartók-Violinsonate.
Berliner Philharmoniker: Igor Levit spielt das 5. Beethovenkonzert
Der derzeit – zumindest in Zentraleuropa – meistdiskutierte junge Pianist spielt in der Philharmonie Beethoven. Er heißt Igor Levit und hat vor zwei Jahren mit dem DSO das Schumannkonzert blendend intelligent und unverrrückbar selbstbewusst vorgetragen. Wenn Levit (1987 im heutigen Nischni Nowgorod geboren) jetzt das Es-Dur-Konzert spielt, so muss man von hinten beginnen. Der brachialen Kraft des Finales begegnet Levit eigensinnig, ja kapriziös (Seitenthema). Obacht im Mittelsatz (Hymnenthema, Einsatz des Solos mit neuem Material, dann die zwei Variationen)! Levit klingt fesselnd, wenn die Musik einfach tut. Er klingt einfach, wenn die Musik tiefgründig ist. Das ist das Überraschende, und am überraschendsten ist, dass das gelingt. Im Kopfsatz steht Packendes neben Wenigsagendem. Levit findet etwas formidabel Verhastetes in den waghalsigen Arpeggien, im kraftvollen Fortspinnen der Reprise. Dazu kommt, dass Levit genau und hart anschlägt. Freilich reißen Rundung und Farbe des Tons nicht vom Hocker. Und der Doppeloktaven-Ausbruch inmitten der Durchführung donnert nur forsch (während das Fagott stillvergnügt seiner Übellaunigkeit frönt).
Mag sein, dass das live doch noch komplexer klingt als daheim, wo die Musik, runtergebrochen auf Bits und Pixel, eintrifft. Anderes klingt gewollt (Beginn der Kadenz), wieder anderes wird leichtfertig hergegeben (Seitenthema am Ende der Durchführung). Licht und Schatten also. E. Bünings vielberufenes Wort über den Super-Begabten (einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts) würde ich nicht teilen. Wer ein sogenannter Jahrhundert-Pianist ist, entscheidet sich selten vor 40. Levit ist 33. Ein Verspieler passiert dem Levit in den unauslotbaren Weiten der Schlussgruppe der Exposition. Das darf man Pianisten mit wachsendem Weltruhm sagen.
Paavo Järvi beglückt die Berliner Philharmoniker und digitale Zuhörer mit einem unverbindlichen Beethovn. Der tönt flott, beweglich, aufregend, dynamisch wunderbar flexibel und vor allem zackig und schlank. Aber auch leichtgewichtig und nur scheinbar konfrontativ. Das Orchester kann an diesem kalten Berliner März-Samstag wunderbar leise spielen. Klar und vernehmlich hört man hier ein plötzliches Tremolo der tiefen Streicher, da die Triller der Holzbläser (Tutti-Präsentation des Rondothemas). Dennoch: Zufrieden stellt das alles wenig. In die Symphonie Nr. 6 von Prokofjew, die eigentümlich zombiehafte melodische Komplexe aneinanderreiht, höre ich kurz rein. Mit ihrer knappen Dreiviertelstunde ist sie mir heute Abend zu lang und klingt unter Järvi unbeteiligt. Ich mag den Sergej Prokofjew, habe schon vor Jahren an dieser Stelle mehrfach, wenn auch komplett erfolglos, versucht, Herrn Rattle zu einem Prokofjew-Zyklus zu ermuntern.
Dann was ganz anderes. Die in Berlin lebende Pianistin Fidan Aghayeva-Edler improvisiert in kurzen Youtube-Videos, und zwar nach von Bekannten und Freunden zugesandten Motiven und Audio-Files. Am interessantesten meiner Meinung nach die Improvisation nach Material des Cellisten Guilherme Rodrigues.
Pianistin zwischen Flügel und Kopfhörer: Fidan Aghayeva-Edler
Joana Mallwitz im Konzerthaus, Ticciati beim DSO
Zum zweiten Mal ist die Dirigentin Joana Mallwitz im Konzerthaus am Gendarmenmarkt zu Gast. Es ist erneut ein gutes Konzert. Der Livestream läuft auf konzerthaus.de und Arte. Was im Dezember die Interpretation der Unvollendeten auszeichnete, kommt nun auch der 6. Sinfonie von Tschaikowsky zugute: Frische und Spontaneität und die Fähigkeit, lang gezogene Spannungsbögen mit Farben und Emotionen zu füllen. Und das Konzerthausorchester langt bei Tschaikowsky nach wochenlanger Corona-Pause – einzige Ausnahme war das Geburtstagsständchen für Iván Fischer – mit hörbarem Hunger zu. Wunderschön die Zartheit der Anfänge, die wehmutvollen Höhepunkte. Die Bläser haben viel Freiheit. Der Gefahr arg gelockerter Zusammenhänge, die immer wieder hörbar wird, begegnet Mallwitz mit unverbrauchtem melodischem Charme, den sie offenbar perfekt draufhat. Das Orchester allerdings klingt ungenau, wenn auch nicht unprobiert.
Zu den Institutionen Berliner Musikpflege gehört die Konzertreihe Unerhörte Musik. Hier wird allwöchentlich Neue Musik im handlichen Zwei-Stunden-Format bereitgestellt, immer dienstags, im intimen Rahmen des BKA-Theaters, Weiterlesen →