Wer hätte es gedacht? Prall gefüllt präsentiert sich das sinfonische Wochenende in Berlin. Und plötzlich liegen nach den neuesten Ankündigungen wieder Konzertbesuche im Bereich des Möglichen – falls die Inzidenzzahlen sinken. Her mit den Konzerten für Geimpfte und frisch Getestete! Alles ist besser als keine Konzerte. Apropos prall gefüllt: Binnen 24 Stunden spielt das DSO im Radiokonzert, das Konzerthausorchester frei auf Arte, und die Philharmoniker streamen als Bezahl-Konzert.
Außerdem sendet die Universität der Künste am Freitagabend live. Wenn ich in den vergangenen Saisons Frühlings- oder Kreutzersonate hörte, dann in einem der Vortragsabende von UdK oder Hanns-Eisler-Hochschule. Am Freitag bewundere ich Victoria Wong in sehr guter Ton- und Bildqualität aus dem Joseph-Joachim-Konzertsaal an der Bundesallee mit der Bartók-Violinsonate.
Berliner Philharmoniker: Igor Levit spielt das 5. Beethovenkonzert
Der derzeit – zumindest in Zentraleuropa – meistdiskutierte junge Pianist spielt in der Philharmonie Beethoven. Er heißt Igor Levit und hat vor zwei Jahren mit dem DSO das Schumannkonzert blendend intelligent und unverrrückbar selbstbewusst vorgetragen. Wenn Levit (1987 im heutigen Nischni Nowgorod geboren) jetzt das Es-Dur-Konzert spielt, so muss man von hinten beginnen. Der brachialen Kraft des Finales begegnet Levit eigensinnig, ja kapriziös (Seitenthema). Obacht im Mittelsatz (Hymnenthema, Einsatz des Solos mit neuem Material, dann die zwei Variationen)! Levit klingt fesselnd, wenn die Musik einfach tut. Er klingt einfach, wenn die Musik tiefgründig ist. Das ist das Überraschende, und am überraschendsten ist, dass das gelingt. Im Kopfsatz steht Packendes neben Wenigsagendem. Levit findet etwas formidabel Verhastetes in den waghalsigen Arpeggien, im kraftvollen Fortspinnen der Reprise. Dazu kommt, dass Levit genau und hart anschlägt. Freilich reißen Rundung und Farbe des Tons nicht vom Hocker. Und der Doppeloktaven-Ausbruch inmitten der Durchführung donnert nur forsch (während das Fagott stillvergnügt seiner Übellaunigkeit frönt).
Mag sein, dass das live doch noch komplexer klingt als daheim, wo die Musik, runtergebrochen auf Bits und Pixel, eintrifft. Anderes klingt gewollt (Beginn der Kadenz), wieder anderes wird leichtfertig hergegeben (Seitenthema am Ende der Durchführung). Licht und Schatten also. E. Bünings vielberufenes Wort über den Super-Begabten (einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts) würde ich nicht teilen. Wer ein sogenannter Jahrhundert-Pianist ist, entscheidet sich selten vor 40. Levit ist 33. Ein Verspieler passiert dem Levit in den unauslotbaren Weiten der Schlussgruppe der Exposition. Das darf man Pianisten mit wachsendem Weltruhm sagen.
Paavo Järvi beglückt die Berliner Philharmoniker und digitale Zuhörer mit einem unverbindlichen Beethovn. Der tönt flott, beweglich, aufregend, dynamisch wunderbar flexibel und vor allem zackig und schlank. Aber auch leichtgewichtig und nur scheinbar konfrontativ. Das Orchester kann an diesem kalten Berliner März-Samstag wunderbar leise spielen. Klar und vernehmlich hört man hier ein plötzliches Tremolo der tiefen Streicher, da die Triller der Holzbläser (Tutti-Präsentation des Rondothemas). Dennoch: Zufrieden stellt das alles wenig. In die Symphonie Nr. 6 von Prokofjew, die eigentümlich zombiehafte melodische Komplexe aneinanderreiht, höre ich kurz rein. Mit ihrer knappen Dreiviertelstunde ist sie mir heute Abend zu lang und klingt unter Järvi unbeteiligt. Ich mag den Sergej Prokofjew, habe schon vor Jahren an dieser Stelle mehrfach, wenn auch komplett erfolglos, versucht, Herrn Rattle zu einem Prokofjew-Zyklus zu ermuntern.
Dann was ganz anderes. Die in Berlin lebende Pianistin Fidan Aghayeva-Edler improvisiert in kurzen Youtube-Videos, und zwar nach von Bekannten und Freunden zugesandten Motiven und Audio-Files. Am interessantesten meiner Meinung nach die Improvisation nach Material des Cellisten Guilherme Rodrigues.
Joana Mallwitz im Konzerthaus, Ticciati beim DSO
Zum zweiten Mal ist die Dirigentin Joana Mallwitz im Konzerthaus am Gendarmenmarkt zu Gast. Es ist erneut ein gutes Konzert. Der Livestream läuft auf konzerthaus.de und Arte. Was im Dezember die Interpretation der Unvollendeten auszeichnete, kommt nun auch der 6. Sinfonie von Tschaikowsky zugute: Frische und Spontaneität und die Fähigkeit, lang gezogene Spannungsbögen mit Farben und Emotionen zu füllen. Und das Konzerthausorchester langt bei Tschaikowsky nach wochenlanger Corona-Pause – einzige Ausnahme war das Geburtstagsständchen für Iván Fischer – mit hörbarem Hunger zu. Wunderschön die Zartheit der Anfänge, die wehmutvollen Höhepunkte. Die Bläser haben viel Freiheit. Der Gefahr arg gelockerter Zusammenhänge, die immer wieder hörbar wird, begegnet Mallwitz mit unverbrauchtem melodischem Charme, den sie offenbar perfekt draufhat. Das Orchester allerdings klingt ungenau, wenn auch nicht unprobiert.

24 Stunden nach Igor Levits 5. Beethovenkonzert spielt Lars Vogt das 1. Brahmskonzert. RBB Kultur überträgt. Vogt spielt schnörkellos, ohne jede Pianisten-Eitelkeit (die Igor Levit noch besitzt, auch wenn er das selbst vehement bestreiten würde). Sein konzentrierter Zugriff fesselt. Er fasst Brahms lapidar auf. Vogt lässt den gewalttätigen Details das Wort, meidet selbstgefälliges Maestoso, und doch ist sein sachlicher Ernst immer zur Stelle. Darunter leidet aber keinesfalls die Differenziertheit. So hört man das wuchtige Pathos des 1850er-Brahms unverkrampft verknappt, und die herbe D-Dur-Lyrik im Adagio klingt überhaupt nicht falsch „angefasst“. Das fügt sich heute Abend wunderbar in dieses Werk, auch weil Ticciati partnerschaftlich subtil die Fäden zieht. Übrigens klirrt der Flügel am Radio. Von Ticciatis Brahmszyklus gefiel mir 2019 nur die wagemutige Erste, die anderen Sinfonien überzeugten meiner Meinung nach nicht ganz. Heuer weicht Robin Ticciati mit dem DSO kein Inch vor den Herausforderungen zurück. In short, er leert den Brahms-Kelch bis zur Neige. Des Engländers Leidenschaft für ein Maximum an Klarheit (Beginn langsamer Satz), und zwar ohne dem Werk die Dringlichkeit zu nehmen, seine Kunst der Bedächtigkeit (2. Thema, piano-Stellen) begeistern mich derzeit. Im Finale bricht die Radioübertragung für drei Minuten weg. Ähnliche Probleme gab es auch bei der letzten RBB-Kultur-Übertragung mit dem DSO.
Weitere Konzertberichte:
Kritik auf RBB24: „Kommunizieren und Zuhören“ (Hans Ackermann), Kritik auf RBB Kulturradio: „Zwei Sternstunden“ (Andreas Göbel), „Musik wie zum Anfassen“ (Bezahlartikel, Peter Uehling)
Für mich war Levit einfach nur großartig von der ersten Note bis zum letzten Takt. Auch die Sechste bot alles was ich von Prokofjev erwarte
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Mich entsetzt es, dass es hier gutgeheißen wird, dass nur noch Getestete und Geimpfte in die Konzerte gehen können. Die PCR Tests können keine Infektionen nachweisen, berichtete gerade auch die Fachzeitschrift „The Lancet“, sie bergen das Risiko, dass Gesunde als infektiös eingestuft und vom kulturellen Leben ausgegrenzt werden, ja sich sogar in Isolation bzw. Quarantäne begeben müssen. Nur Bekloppte werden sich hoffentlich darauf einlassen. Die Kultur-Schafe sollten der Politik auf die Füße treten und sich solche verschärften Maßnahmen nicht bieten lassen. Außerdem möchte ich wissen, was für einem Test ich mich da unterziehen muss: Die Künstler müssten meistens nur „gurgeln“, das ist wenigstens nicht schmerzhaft. Der Nasentest, dem viele Bürger ausgesetzt sind, ist ungleich schmerzhafter. Da gibt es noch viele Fragezeichen.
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Sehr despektierlich gegenüber Levit
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Wahnsinn BPO spielen vor Publikum
https://www.berliner-philharmoniker.de/titelgeschichten/20202021/pilotprojekt/
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Coooool Alles mit Publikum :-)
SO Figaro-Premiere 2.4. https://www.staatsoper-berlin.de/de/staatsoper/news/berliner-pilotprojekt-testing.182/
DO Francesca da Rimin https://www.deutscheoperberlin.de/de_DE/senatsinitiative-testing#
Konzerthaus Tetzlaff Mozart Brahms 25.3 https://www.konzerthaus.de/de/programm/kammermusik/6172
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Ich habs gesteckt beim Vorverkauf für das Pilotprojekt Konzert der Phillies. 20 verschiedene Plätze angeklickt — jedes Mal schon verkauft. Etwas frustrierend.
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„In times of no participation in #Berlin even for journalists in streamed concerts“ Bruggie beschwert sich dass er nicht in die Philharmonie darf wenn die Phillies für die Dig Concert Hall spielen
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