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Simon Rattle Berliner Philharmoniker Brahms 2. Sinfonie Philharmonie
80 Musiker und ein weißer Schopf: Simon Rattle und das Bad in der Menge

Weil die Berliner Philharmoniker durch Nordamerika touren, kommt Berlin zwei Tage hintereinander in den Genuss des vollständigen Tourprogramms. Boulez, Mahler, Neue Wiener Schule, Brahms. Wien, Frankreich, Deutschland. Ausdruck, Moderne, Struktur.

Es ist ein Konzertdoppel, das unwillkürlich nach Abschied schmeckt (alas!). Werde ich Brahms‘ 2., Mahlers 7. noch einmal unter Rattle hören?

Also zur Sinfonie Nr. 2, über die man seit je nur Gutes hört („durchpulst von Lebensbejahung“, „wie die Sonne erwärmend“). Im ersten Satz lässt Simon Rattle es einfach laufen (Jeder macht das, Brahms gibt das her). Rattle hat dieses grenzenlose Zutrauen in die Inhalte Brahms’scher Musik.

Kommt daher die Unbekümmertheit, aber auch die grandiose Nähe (das Gefühl, Rattle hockt in oder auf jeder Note, man sollte diesen Gedanken nicht in allerletzter Konsequenz zu Ende denken)?

Höhepunkt ist wohl das überreiche Adagio. In ihm scheint der warme Puls des Allegros aufgehoben und transformiert. Unnachahmlich das wohlige Seufzen der Bläser (Nachsatz 1. Thema). Später: Die fünf Takte heroischer Forte-Episode (Sechzehntel der Geigen!) sind an fesselnder Dichte und Kraft kaum zu überbieten. Unmittelbar hör-, ja fühlbar ist der Verweis auf’s Allegro: nämlich des Hornsolos auf jenes der Coda (Stefan Dohrs wuchtige Plastizität) des soeben verklungenen Satzes.

Es ist immer wieder erstaunlich zu hören, wie vehement Rattle das Klang-Potenzial des Orchesters realisiert. Am bezeichnendsten diesbezüglich ist wohl das Heranziehen der Bläser ins Herz der Musik. Auch der von Erregung durchzitterte Klang der hohen Geigen gehört hierher. Das Finale vereint hellstes Feuer und enorme Haltlosigkeit. Unnachahmlich der gewaltsam leise Einsatz der Reprise.

Rattles Tempo ist um ein Weniges, aber Hörbares flüssiger als bei früheren Interpretationen der Brahms 2. Die Berliner Philharmoniker haben Genauigkeit und unvergleichliche Kohäsion einzusetzen.

Hier und heute muss ein jeder sich das Pausenbier durch harte Arbeit verdienen. 50 Minuten non-stop Neue Wiener Schule. Schönbergs Fünf Orchesterstücke mäandern frei und übergroß. Bergs Drei Orchesterstücke bieten die Musiker satten Tons, tiefsinnig und gemeingefährlich prall und kurvenreich, als wär’s ein Stück von Hitchcock. Transparenz ist Neben-, Leidenschaft Ehrensache. Webern (Sechs Orchesterstücke op. 6b) spricht mich heute weniger an. Es ist das gewohnt transparente Stimmenspiel, ohne dass freilich die Struktur zum Ornament erstarrte.

Orchesteraufstellung: erste und zweite Geigen sitzen einander gegenüber, Bratschen Mitte links, Celli Mitte rechts.