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Weil die Berliner Philharmoniker durch Nordamerika touren, kommt Berlin zwei Tage hintereinander in den Genuss des vollständigen Tourprogramms. Boulez, Mahler, Neue Wiener Schule, Brahms. Wien, Frankreich, Deutschland. Ausdruck, Moderne, Struktur.
Es ist ein Konzertdoppel, das unwillkürlich nach Abschied schmeckt (alas!). Werde ich Brahms‘ 2., Mahlers 7. noch einmal unter Rattle hören?
Also zur Sinfonie Nr. 2, über die man seit je nur Gutes hört („durchpulst von Lebensbejahung“, „wie die Sonne erwärmend“). Im ersten Satz lässt Simon Rattle es einfach laufen (Jeder macht das, Brahms gibt das her). Rattle hat dieses grenzenlose Zutrauen in die Inhalte Brahms’scher Musik.
Kommt daher die Unbekümmertheit, aber auch die grandiose Nähe (das Gefühl, Rattle hockt in oder auf jeder Note, man sollte diesen Gedanken nicht in allerletzter Konsequenz zu Ende denken)?
Höhepunkt ist wohl das überreiche Adagio. In ihm scheint der warme Puls des Allegros aufgehoben und transformiert. Unnachahmlich das wohlige Seufzen der Bläser (Nachsatz 1. Thema). Später: Die fünf Takte heroischer Forte-Episode (Sechzehntel der Geigen!) sind an fesselnder Dichte und Kraft kaum zu überbieten. Unmittelbar hör-, ja fühlbar ist der Verweis auf’s Allegro: nämlich des Hornsolos auf jenes der Coda (Stefan Dohrs wuchtige Plastizität) des soeben verklungenen Satzes.
Es ist immer wieder erstaunlich zu hören, wie vehement Rattle das Klang-Potenzial des Orchesters realisiert. Am bezeichnendsten diesbezüglich ist wohl das Heranziehen der Bläser ins Herz der Musik. Auch der von Erregung durchzitterte Klang der hohen Geigen gehört hierher. Das Finale vereint hellstes Feuer und enorme Haltlosigkeit. Unnachahmlich der gewaltsam leise Einsatz der Reprise.
Rattles Tempo ist um ein Weniges, aber Hörbares flüssiger als bei früheren Interpretationen der Brahms 2. Die Berliner Philharmoniker haben Genauigkeit und unvergleichliche Kohäsion einzusetzen.
Hier und heute muss ein jeder sich das Pausenbier durch harte Arbeit verdienen. 50 Minuten non-stop Neue Wiener Schule. Schönbergs Fünf Orchesterstücke mäandern frei und übergroß. Bergs Drei Orchesterstücke bieten die Musiker satten Tons, tiefsinnig und gemeingefährlich prall und kurvenreich, als wär’s ein Stück von Hitchcock. Transparenz ist Neben-, Leidenschaft Ehrensache. Webern (Sechs Orchesterstücke op. 6b) spricht mich heute weniger an. Es ist das gewohnt transparente Stimmenspiel, ohne dass freilich die Struktur zum Ornament erstarrte.
Orchesteraufstellung: erste und zweite Geigen sitzen einander gegenüber, Bratschen Mitte links, Celli Mitte rechts.
Immer schön zu lesen, wie diese Repertoirestücke der Berliner Philharmoniker für Sie wie enge Freunde sind, an denen Sie auch die kleinsten Veränderungen registrieren. Ich muss gestehen, die Male, als ichs gehört habe, hat mir Rattles Wiener Moderne immer besser gefallen als sein Brahms.
Gehen Sie heute Abend auch zur zweiten Hälfte des Tourneeprogramms? Und morgen gar zum DSO-Jubiläumskonzert mit Nagano? (Ich mache dieses Wochenende Nische mit Kinderoper und Kammermusik.)
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Genau, heute und morgen auch (dass man so berechenbar ist). Mahler 7. ist ja auch fast Nische. Komisch, aber den Brahms-Zyklus 2008 habe ich noch gut im Gedächtnis, sehe einige Teile noch wie im Film vor mir. Das waren noch die Zeiten, als ich möglichst zwei bis drei Mal ins gleiche Konzert bin…
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Mir fallen zumindest zwei Leute ein, die Brahms Sinfonien nicht mochten, Tschaikowsky und George Bernhard Shaw.
Was mir persönlich gefallen hat dass das Programmheft die Orchesterstücke von Berg einmal nicht reflexhaft mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Verbindung bringt. Mit dieser Deutung hat man sich das Verständnis doch immer recht einfach gemacht.
Überhaupt waren die Einführungstexte von Tobias Bleek sehr informativ.
Gab es im ersten Satz nicht leichte Koordinationsprobleme oder saß ich nur ungünstig?
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Soll heißen 1. Weltkrieg!?
Stimmt, Tschaikowski und was er über Kollegen denkt. Ich musste etwas suchen, habs dann aber gefunden. Im Reclam. Bach ist unterhaltend, Beethovens Spätwerk ist uninteressant, Brahms kalt, ohne Tiefe, Parsifal langweilig. Das ist so originell, es könnte fast von Glenn Gould stammen. Und hat ja alles seinen Kern Wahrheit.
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