Schlagwörter
Juliette.
Komponist: Bohuslav Martinů (geboren 1890, lernt ab 1923 bei Roussel in Paris). Die Oper komponiert: 1938.
Man braucht die Handlung nicht zu erzählen. Nur so viel. 1. Die Realität ist löchrig wie Schweizer Käse. 2. Die Handlung verläuft so geradlinig wie ein Haufen Spaghetti. 3. Das Motto könnte lauten: Traue unter den geschilderten Umständen keiner Frau, und räkele sie sich noch so ausgiebig auf der Picknickdecke, wie Magdalena Kožená dies tut.

Rolando Villazón vor Claus Guth: Bohuslav Martinůs Juliette hatte an der Staatsoper Berlin Premiere / Foto: Monika Rittershaus / staatsoper-berlin.de
Kann so was gute Oper sein?
Ja, aber hallo. Akt 1 und 2 finde ich sehr kurzweilig. Akt 3 ist auf ergreifende Weise traurig. Doch ebenso wichtig ist Folgendes. Der Staatsoper Berlin und Regisseur Claus Guth gelingt die vielleicht konziseste Neuproduktion der Berliner Opernsaison. Der mit Luken, Türen und Klappen gespickte Würfelraum ist voller kartonhafter Leichtigkeit (Alfred Peter), seine Durchlässigkeit für surrealistische Gags trägt die Sänger auf eine fast zärtliche Art durch die Oper. Claus Guths Einfachheitspathos macht aus dem 3. Akt eine strenge Sinfonie aus Licht und Nebel. So was hätte ich mir für den 3. Akt Götterdämmerung gewünscht.
Magdalena Kožená singt die rätselhafte Juliette mit viel Herzblut und glockenhafter Klangschwere. Ihr Mezzosopran schwingt intensiv. Ihr Spiel ist sprechend wie je. Die Bühnenpräsenz umweht die Tragik unglücklicher Leidenschaft. Koženás Timbre ist so schwer wie Baumharz. Die Sängerin ist Tschechin. Sie mag es bedauern, dass nicht die tschechische Fassung („Julietta“) gespielt wird.

Magdalena Kožená beschäftigt sich mit Rolando Villazón / Foto: Monika Rittershaus / staatsoper-berlin.de
Rolando Villazón singt Michel, einen ebenso sympathischen wie tollpatschigen Pariser Buchhändler. Kaum betritt Villazón die Bühne, ist ihm (und uns) sofort unklar, ob er träumt, lebt oder gar tot ist. So viel zu Keep it simple. Dabei ist dieser Michel eine fordernde Mordspartie. Der dritte Akt ist eine One-Man-Show (Eigentlich müsste die Oper „Michel“ heißen). Villazón packt das sehr gut. OK. Die Höhe hat so viel Fruchtfleisch wie eine ausgetretene Bananenschale. Zwei Stellen sind inakzeptabel. Doch in der Mitte hat Rolando Villazón die Farbpalette, die verzückt, den tenoralen Schmelz, der einen umbläst. Villazóns insistierendes Deklamieren (= der emotionale Dauerdruck seines Singens) trägt den Zuhörer voltenreich durch das Gestrüpp der surrealistischen Handlung hindurch. Villazóns Französisch hatte ich besser in Erinnerung. War sein Weltallmäßiger-Sensations-Don José von 2006 nicht piccobello in dieser Hinsicht?
Der stupende Thomas Lichtenecker singt mit weiß vibrierender Intensität den Kleinen Araber und den jungen Matrosen. Wolfgang Schöne gibt dem Alten Araber vokale Würde, und er ist ein prächtiger Altvater Jugend. Tenor Richard Croft ist ein vergesslicher Kommissar (wie auch ein bedrohlicher Waldhüter). Elsa Dreisig singt u.a. die eifrige Handleserin. Adriane Queiroz singt unüberhörbar die Fischverkäuferin. Arttu Kataja ist der Mann mit Helm sowie im 3. Akt der weitmantlige Verkäufer der Erinnerungen. Jan Martiník ist der Mann am Fenster sowie der gruselige Nachtwächter (wie schon in den Meistersingern). Natalia Skrycka (2. Herr) und Florian Hoffmann (Lokführer) vervollständigen das Ensemble.
In der Staatskapelle Berlin blüht es wie zur IGA. Farbe! Buntheit! Straffheit! Geschmeidiges Blech und seidige Streicher tummeln sich, wohin das Auge schaut. Das Holz ist zielstrebig. Daniel Barenboim fasst die Farben präzis. Die wenigen Stichflammen des Orchesters vibrieren vor innerer Kraft. Die Leitmotiv-artigen Hornfanfaren mäandern traumverloren durch das Schillertheater. In der Musik Bohuslav Martinus findet man die sinnliche und komprimierte Gestik Debussys, man findet straffen Ratter-Prokofjew, man findet Janáček-Intelligenz – doch in etwa so, wie man in Brahms oder Bruckner Beethoven findet.
Mit einem Wort: Es ist ein Vergnügen.
Wie Bohuslav Martinůs „lyrische Oper“ Juliette mit einem weniger außerordentlichen Ensemble, unter einem weniger fabelhaften Dirigenten, in einer weniger genialen Inszenierung klingt und aussieht, ich weiß es nicht. Für DIESE Berliner Juliette gebe ich zwei ganze Tristans hin.
Ich bin sehr gespannt, ich gehe Sonntag mit meiner Frau hin. Ihr Bericht steigert die Vorfreude.
Vor einigen Jahres gab es die Juliette-Suite bei den Berliner Philharmonikern mit Kozena und Davislim, der bestimmt besser singt als Villazon. Dirigieren sollte Mackerras, der aber kurz vor dem Konzert starb. Stattdessen Netopil, der dann bei den BP nicht wieder gesehen ward, oder?
Wie auch immer, seitdem will ich unbedingt die ganze Oper sehen, endlich ist Gelegenheit.
Mir kam damals auch die von Ihnen schnöde ridikülisierte Handlung zauberhaft, faszinierend und tiefsinnig vor, na, mal sehen…
LikeGefällt 1 Person
Netopil, ja, richtig. Ich habe im Winter vorbereitenderweise in der Concert Hall in Juliette reingehört, befand Martinu jedoch für dünn orchestriert und blutleer vokalisiert. Ganz anders diese Woche in vivo, der Musikgott sei Dannk. Martinu wäre ein heißer Tipp für das Musikfest Berlin. Dort haben Bruckner, Wagner und Mahler meiner Meinung nach nun wirklich nichts zu suchen (Es sei denn man findet ein Streichquartett des 13-jährigen Richard und stellt es vor). Martinus Cellokonzerte sind sehr schön. Auch die Symphonien mag ich (3 + 4). Sie kennen sicherlich die vollständige Kammermusik.
LikeLike
mit Martinu Bewegung in die Berliner Opernlandschaft bringen, nicht gerade eine Ausgrabung, doch für die meisten vermutlich die erste Begegnung. Das gefällt mir. Gut, wenn dann noch einer wie Villazon auf der Bühne steht, der mit unglaublichem Drive und Einsatz das Ding quasi alleine nach Hause schaukelt. Villazon ist einfach so possierlich mit seinen Slapsticks und Gags, auch wenn dann oft nicht mehr aufhört, den Charlie Chaplin zu geben. Doch das gehört nun einmal zu seiner Bühnenpersönlichkeit. Eine hervorragende, unbedingt überzeugende Darstellung von Rolando Villazon, bis zur letzten Note. M Kozena hat mir als sprichwörtliche „Traumfrau“ in Rot auch sehr gut gefallen mit ihrer durchdringenden Stimme. Jan Martinik ist für die Staatsoper inzwischen ungeheuer wertvoll.
Der lange Applaus für alle Beteiligten war voll berechtigt, allen voran für Daniel Barenboim, Villazon und die Musiker.
Die Begegnung mit Juliette empfand ich als echte Bereicherung. Öfters kam mir die französische leichte Oper in den Sinn, zum Beispiel Etoile von E. Chabrier. Die Zweideutigkeiten der Handlung haben aber nicht jedem gefallen. Neben mir saß ein Ehepaar und sie war überhaupt nicht erbaut von dem „surrealistischen Zeug“. Wer mit den verschachtelten Ebenen und den Loops der Handlung wenig anfangen kann, für den wird Juliette schnell zum Ärgernis. Mir fällt spontan „Das Leben ein Traum“ des spanischen Dichters Calderón de la Barca ein. Aber auch zu Kafka kann man leicht Verbindungen aufstellen. Die Oper ist unbedingt sehenswert. Wer nur einen Funken Interesse an Neuem hat, der sollte sich die Inszenierung ansehen.
VG
Oliwer
LikeGefällt 1 Person
In der Tat, Martinu ist vom Außenseiter zum „hoffnungsvollen Aufsteiger“ im Klassikbetrieb geworden. Mein Motto: Man kann die millionste Aufführung der Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta auch mal sein lassen und stattdessen ruhigen Gewissens eine Martinu-Symphonie spielen.
LikeLike
Besten Dank für Ihre Kritik.
Ich habe die Premiere gesehen. Claus Guth ist in Hochform, dito Orchester und Sänger. So schafft die Staatsoper gegen Ende der Saison eine ansteigende Formkurve, nachdem vieles bislang durchwachsen gelang, man denke nur an die Meistersinger von Andrea Moses, die Traviata, die nicht hielt, was viele Berliner Opernfans sich versprochen haben und Glucks Orfeo, der auch recht glücklos war.
Für Villazon allein lohnt sich das Kommen. Was der für Klamauk mit dem Papageien macht, ist allein das Eintrittsgeld wert. Solch intensive Bühnenpräsenz ist schlichtweg unglaublich. Ich für meinen Teil habe mich an den gequetschten Spitzentönen nicht im Mindesten gestört. Die Partie dürfte Villazon eigentlich sehr gut in der Stimme liegen, nicht zu hoch, keine hohen Cs, die zu schmettern wären, viel Mittellage, wo Villazon immer noch traumhaft klingt.
LikeGefällt 1 Person
Ich bedanke mich für Ihren Kommentar.
Ja, der Papagei gab etliche Lacher. Wie das Tier RV in die Hand und die Nase beißt, und zuletzt gibt er dem Viech eins über die Rübe… Villazón scheint dazu geschaffen, herzensgute Menschen, die nichts anders im Sinn haben als die Suche nach etwas Glück und ein bisschen Liebe, zu verkörpern. Seinen Staatsopern-Nemorino von 2012 habe ich heute noch im Ohr.
LikeLike