Wie oft ich Alban Bergs Lulu-Suite auch schon gehört habe, die Lulu-Oper ist immer wieder aufs Neue unbekannt.

Es kann sein, dass erster und zweiter Akt das beste Operntheater der ersten Jahrhunderthälfte sind- in der Post-Parsifal-Ära, die vielleicht immer noch andauert. Das Drama mit dem dritten Akt kennt man. Komponist stirbt. Witwe sucht Vollender. Schönberg will nicht. Webern auch nicht. Jetzt untersagt Witwe Komplettierung. Witwe stirbt. Cerha, als Österreicher für diese Aufgabe quasi prädestiniert, springt ein. Fakt ist: Der dritte Akt zieht sich. Die Instrumentierung büßt an Klarheit und Kraft ein.

Dmitri Tscherniakow gibt sich als Regisseur ganz als Mensch des Verstandes. Als Zuschauer ist man zuallererst Zuschauer, weniger Mitfühler. In Akt 1 ist das ein Vorteil. In Akt 3 ein Nachteil.

Zu Akt 1: Lulu ist ein Ausbund von Temperament. Bei ihr ist ein Instinkt für Allzumenschliches ohnegleichen. Bombe! Marlis Petersen ist der Magnet des Abends. Superb gespielt. Ihr Sopran ist so höhensicher wie zartglockig. Koleraturen sitzen. In der Sopranstratosphäre (alles über dem Hohen C) fühlt sich ihr Sopran pudelwohl. O-Ton Petersen vor zehn Jahren: „Das Hohe C ist für mich eine tiefe Note“. Ihr hohes F ist ziemlich gut. Tscherniakow und Petersen geben der Lulu etwas Ibsen-haftes.

Zu Akt 3: Tscherniakows Lulu wird nach hintenraus langweilig. In Akt 3 ist Lulu Fummel-Trägerin und Stuhlräklerin, gesellschaftlich downgegradet. Man kann auf den Gedanken kommen, dass Frau Petersen vom Regisseur allein gelassen wird. Den Rest der Sänger verdonnert Tscherniakow zu andauerndem Herumstehen.

Tscherniakow baut eine Einheitsbühne. Ein Raster aus Glaswänden. Transparenter Aufmarschplatz für die Sänger. Geometrischer Tummelplatz für die Tänzer. Aber mit überzeugender Knipps-aus-Knipps-an-Lichtregie (Chleb Filschtinskij).

Daniela Sindrams Geschwitz muss man wegen des Strahlungsmoments in der letzten Szene lieben. Diese Octavian-Stimme. Dieser Schrei des Herzens als Gesang der Kehle.

Matthias Klink – gut geführter, heller Tenor – ist der bedauernswerte Alwa. Idealbesetzung. Stellenweise überragend.

Besetzung Lulu München 3.6.2015

Besetzung Lulu München 3.6.2015

Bo Skovhus Bariton ist stahlhart und spiegelglatt wie seine männliche Glatze.

Martin Winkler ist der famose Athlet, einer der wortmächtigsten und unsympathischsten Rollen der Opernhistorie. Eine Stimme wie eine Schweinshaxe.

Rainer Trost leiht dem Maler, Lulu-Opfer Nr. 2, seinen Tenor.

Christian Rieger gefällt mit biegsamem und festem Bariton.

Der Herr neben mir nach dem Blick ins Programmheft: „zwei Pausen. Oh je“.

Kirill Petrenkos Staatsopernorchester spielt gut.

Diese Opernkritik hat versucht, folgende Begriffe zu meiden: Femme Fatale, das Ewig-Weibliche, Erotik, Sinnlichkeit, Kindfrau, lesbisch, bürgerliche Doppelmoral.