Ein schönes Programm für den vierten Advent. Reifer, nicht überreifer Wagner, reifer, nicht überreifer Sibelius. Flüssiger, aber überflüssiger Widmann.
Das Tristanvorspiel wird rasch genommen. Das hat System. Phrasen scheinen zu eng für die Takte, in denen sie stehen. Die Celli insistieren (voll flackernder Unruhe). Kaum noch war die Sucht nach der unendlichen Melodie unverblümter, wollte schneller erreicht werden. Ein spezieller Effekt fast ist das wichtigtuerische Pizzicato-Plopp der Streicher in Takt 16. Aber die Streicher entfalten eine drückende Komplexität. Nie ja kam die Sympathie für die Tatsache des Geschlechtsakts an sich mehr von ganzem Herzen als in diesem Stück aus den Spät-1850ern. Um dies hörbar zu machen, wählte Wagner die Strategie, Zeitstrecken von hypnotischer Größe zu schaffen. Auch der Ausklang nach dem FF-Höhepunkt ist feine Musik von entlegener Großartigkeit, besonders heute Abend, subtil und sonderbar (Oboe Christoph Hartmann), schwerfällig und selbstgefällig. Genauso stelle ich mir Wagner vor. So versponnen in die eigenen Sondergesetze hörte ich diese Musik nie.
Jörg Widmanns Orchesterstück mit Klavier (‚Trauermarsch‘) wird uraufgeführt. Für all jene, die der deutschen Erstaufführung von Widmans Flötenkonzert beiwohnten und deren Eindruck damals dem meinen ähnlich war, ist dies nicht nur ein Grund zur Freude. Der umfangreiche Schlagzeugapparat, der u.a. Röhrenglocke, Waterphone, Wassergong, Peking-Oper-Gong umfasst, sorgt für ein klares Klangbild. Das gefällt mir. Der Titel Trauermarsch fällt zwei Nummern zu groß aus. Ist das Trauermusik? Nicht die Bohne. Trauermusik müsste anders klingen. Ist das gute Musik? Ja. Widmann frickelt so was von gerne an überraschenden Klangsituationen. Ist das große Musik? Nein. Jede Kritik erwähnt die Celli mit tiefer B-Saite und die fünfsaitigen Bässe. Also erwähne ich dies auch. Yefim Bronfman gibt sein Bestes. Er spielte mit Ernst, Größe und künstlerischem Sinn, wie ich es von ihm kenne.
Es könnte eine Liste geben: Ten worst premieres Rattle has ever done.
Man muss den Schwan von Tuonela – Rattle macht das gerne, noch schnell einen kleinen Hammer dazwischen schieben, wo das Programm auch so ausreicht hätte – einmal gehört haben, was hiermit heute geschehen ist. Dass und wie Dominik Wollenweber Englischhorn spielt, dürfte Besuchern der Philharmonie nicht erst heute bekannt geworden sein.
Sibelius‘ Fünfte spielen die Philharmoniker schneller als 2010. Der Tuttiklang ist heller und bewusster als 2010. Das betont noch stärker die nackte Struktur, die freie Flächen, vor denen sich Solostimmen berückend präzise in ihrer Kargheit abheben (Damiano Fagott). Es überrascht, wie viel herzzerreißende Knappheit, Linearität und gewagte Luftigkeit Sibelius abgewonnen werden kann. Klang Sibelius je so sehr nach letzter Meisterschaft? Nach Parsifal, nach Debussy 1917, nach Strawinskys 1960er-Stücken? Rattle gab offenbar die Losung aus, die kompositorische Einzigartigkeit bedingungslos herauszustellen. Er bekam, was er wollte. Vor dem Hintergrund größtmöglicher Effektlosigkeit erhielt quasi als Nebeneffekt so gut wie jede Temporückung eine erschütternde Bedeutung. Dem einzigen, dem ich skeptisch gegenüberstehe, ist die Schlusssteigerung des dritten Satzes.
Und jetzt noch ein finnisches Sprichwort. Jos ei Simon Rattle, ei viina, terva ja sauna auta, niin sitten kaivetaan hauta.