Noch einige Worte über den Berliner Bruckner-Frühling. 3 x Berliner Philharmoniker, 3 x Bruckner. Simon Rattle dirigierte die Neunte, Christian Thielemann die Vierte, Zubin Metha die Achte. Wer macht den coolsten, befriedigendsten, ähhh… deutschesten, räusper, mit einem Wort, den besten Brucker?
Obergeil — Rattle: Bruckner 9. (mit dem Finale von Cohrs, Samale, Mazzuca, Phillips)
Rattle machte die Neunte mit dem neuen Finale von Cohrs etc. Die Charakteristik von Rattles Bruckner-Interpretation: Schärfe des Klangs, Übergröße des Entwurfs, gläserne Flächen, nackte Struktur – kann verstörend wirken, muss aber nicht. Die Höhepunkte erinnerten an Abbruchhammerexzesse. Rattle längt die Länge und kürzt die Kürze, wodurch etwas Spekulatives, Geistiges entsteht – der El-Greco-Faktor, wenn man so will, oder eben der Berlin-Faktor. Dadurch fängt das Orchester das explizit Tiefschürfende der Emotionen auf, das Rattle fordert.
Das dickste Plus ist, dass es Rattle gelingt, das Schwierige an Bruckner auch etwas menschlich Komplexes zu verwandeln. Zuspitzung! Prozess! Musikalischer Instinkt! Rattles Bruckner scheint darüber hinaus nicht unberührt von Mahlerschen Problemstellungen in Fragen des Ausdrucks und der Form.
Wie meist bei Rattle geistert im letzten Satz noch was großartig Unverdautes vom ersten Satz mit (Macbeth’sche Gespenster!). Das ist Rattles beeindruckendes Talent für untergründige Kontinuität – am meisterhaftesten realisiert etwa in der Beethoven-Fünften, der Beethoven-Dritten, aber auch bei Schumann oder Berg (Lulu-Suite).
Manko: Der zweite Satz lebte nicht. Fand ich jedenfalls.
Bruckner à la deutsch??? — Thielemann: Bruckner 4.
Über kein Konzert habe ich seit Karneval – und das ist schon eine Weile her – so ausgiebig mit anderen Leuten geredet wie über dieses. Ich fasse die Meinungen einiger Bekannter zu Thielemanns Bruckner-Interpretation zusammen: drei waren aus dem Häuschen (zwei Musiker inklusive). Vier waren es nicht (ein Musiker inklusive). Handwerklich mirakulös waren Thielemanns Steigerungen – sozusagen strategisch perfide durchgeplante Schlachtpläne – der Schlieffenplan lässt grüßen. Das gesamte Dirigat war ein Spitzenbeispiel makelloser Orchesterführung. Die Ausführung blitzsauber, fast knallig (ich denke kurz an Lohengrin Vorspiel 2. Akt), das Timing während der sich allmählich anbahnenden, sehr kernigen Crescendi äußerst effektvoll. Alles was Thielemann macht, „sitzt“. Volle Orchesterkraft, schmetterndes Brio.
Und doch war es bei Thielemann so eine Sache mit dem Brucknergefühl, das sich freiwillig ja nur selten einstellt.
Manko Nr. 1: Thielemanns Vierte rührt nicht. Sie wird von den Phillies exekutiert. Thielemann wagt nichts, und schon gar nichts Neues. Die Phillies machen unter Thielemann das, was sie sowieso schon können, aber das eben auf hinreißende Art und Weise gut. Und ist das deutscher Klang? Nee. Aber, wie es so schön heißt: Auf Dauer ist nur die Abwechslung unterhaltsam, sagte schon Giacomo Leopardi (stand in der Zeit, jener Zeitung, in der alle sechs Monate ein Konzertbericht erscheint).
Manko Nr. 2: Der langsame Satz ist zäh. Warum? Er hat keine Aussage. Die Musiker spielen wunderhübsch, aber es kommt nichts raus. Es wiederholte sich der Eindruck von 2007 oder 2008, als Thielemann mit den Wienern die Achte spielte: kolossal, aber leblos.
Manko Nr. 3: Kaum stoße ich eine dieser neuen gläsernen Türen Richtung Potsdamer Platz auf („drücken, push“), ist die Wirkung verflogen und ich habe das unbestimmte Gefühl, dass Herr Thielemann ein Herz hat, in dessen hinterster Ecke etwas Unmusikalisches vorhanden ist. Fazit: viel Schwung mit beeindruckendem Effekt, aber berechenbar und gediegen.
Let it flow/Coole Sache! — Mehta: Bruckner 8.
Ich hätte schwören können, dass die Achte mit Mehta ein Reinfall wird. Ich glaube, ich bin nur ins Konzert, weil ein Bekannter zu verkatert für den Besuch eines „neuen, supergeilen“ Lokals im Norden von Schöneberg war. Dann also Mehta. Ich setze mich auf meinen Platz. Ein Gefühl amüsierter Herablassung erfüllt mich bis in die gewienerte Schuhspitze. Zu Beginn klingt jeder Takt ungewohnt, aber beileibe nicht schlecht, auf keinen Fall Reinfall-mäßig. Hmm, hat was, denke ich, als Mehta mit den Philharmonikern ins zweite Thema einbiegt. Und irgendwann kapiert man, was Mehta vorhat. Er will einen Zusammenhalt, in dem alle Widersprüche verschmelzen. Ich weiß nicht warum, aber es haut hin. Mehtas Bruckner-Achte hat eine wunderbare, faszinierend unproblematische, erfüllte, singende Länge. Kein Deutscher Klang. Metha schafft ein Fließenlassen, und die Berliner Philharmoniker machen allesamt den Eindruck, als seien sie ausgemachte Zen-Meister – ich zitiere -: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens hört auf zu existieren. Eine vollständige innere Befreiung ist die Folge“. Genau!!!
Manko: Dem Finale fehlt dann doch die Brucknersche Grandeur. Da hört man Getöse.
FAZIT: Mehtas Bruckner überraschte und ermüdete nach hintenraus, die enorme Zufriedenheit mit Thielemanns Bruckner war nur von kurzer Dauer, Rattles Bruckner-9. beschäftigte Ohren, Herz und Hirn am meisten.
Was ist deutscher Klang?
Über welche Parameter spricht man phänomenologisch?
Klangfarbe? Ist auch eine metrische/rhythmische Komponente dabei?
Welche Parameter spieltechnisch zur Erzeugung des Klangs? Bogentechnik?
Phrasierung? …??
spielt die Balance der Mittelstimmen eine Rolle?
weiß jemand was deutscher Klang ist?
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Anyway, die Berliner Phil haben seit Karajan sicher keinen deutschen Klang mehr. sondern vor allem einen sehr lauten Klang. ;)
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Einen sehr lauten Klang haben sie eben heutzutage nicht mehr….
Z.B. bei Mahler unter Rattle klingen die Trompeten oft wie eine Blockflötengruppe. Das liegt aber nicht daran, dass sie nicht können, sondern nicht sollen…. das fand ich bei den Dirigenten früher schöner und besser.
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Und was ist eine „Mahlersche Problemstellungen in Fragen des Ausdrucks und der Form.“ ?
Ist es die Frage, ob ich statt 100 doch besser 150 Musiker gleichzeitig beschäftigen kann? ;)
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OK, OK, ich hätte den ironischen Unterton dieser Formulierung noch stärker herausstreichen müssen.. Und doch, die Neunte unter Rattle hatte stellenweise einen Ausdruck, den ich von Nr. 1-8 nicht kenne. Keine Ahnung, ob das ein Verdienst Bruckners oder Rattles oder beider war.
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So, war am Wochenende in Brandenburg unterwegs und davor auch weg…
Naja, die Philharmoniker sind sicher deutscher im Klang als das London Symphony und 100% deutscher als das Chicago Symphony und meiner Meinung sogar deutscher als das ehrfurchterregende Concertgebouworkest. Klar, wenn Jansons oder Abbado die Musiker leitet, ist der beseelte, „schwere“ Ausdruck weit weg. Aber Barenboim und die Staatskapelle, das geht schon sehr deutlich in diese Richtung, und auch Rattle ist ja durchaus ein Freund des intensiven Espressivo.
Der Klang eines Orchesters besagt natürlich nichts über den Wert der Musik, wäre ja auch nicht gut, wenn jeder Schinken wie Parmaschinken schmeckt oder jede Kalbsroulade nach Alfons Schuhbeck schmeckt.
@seit Karajan
Nee, überhaupt nicht. Ich wette, einer der wesentlichen Impulse Karajans als Dirigent der Berliner war zeitlebens, alles komplett anders als Furtwängler zu machen
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War genau andersherum:
1. Thieleman
2. Metha
3. Rattle
1=sehr gut, 3=schlecht
Grüße
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Ah, der nebulöse deutsche Klang…
Ist gar nicht so mysteriös. Streicher Bogentechnik nicht auf Brillianz getrimmt sondern auf Sonorität. Strichtechnik tendenziell mehr Bogengeschwindigkeit, weniger Druck. Hohe Streicher spielen nie vor den Bässen.
Mittelstimmen gleichberechtigt, weil das „Deutsche“ die Tradition der polyphonen Satztechnik ist, wo hingegen das „Welsche“ ;) „Oberstimme plus um-ta-ta“ (R. Schumann sinngemäß) ist.
Concertgebouw habe ich zuletzt unter Jansons eher schlampig erlebt.
Ist Rattle ein Freund des intensiven Espressivo? Empfinde ich nicht so, da er mehr das „Pulsierende“ als das „Strömende“ ist, verkörpert, zeigt…
Furtwängler war Karajan nach ein paar Jahren in Berlin relativ schnuppe denke ich. Eher hat Karajan akustisch eine Leni Riefenstahl Ästhetik angestrebt. Und das ist nicht ursprünglich „deutsch“ sondern eher martialisch und industriell inspiriert.
Barenboim und Staatskapelle, Staatskapelle Dresden, auch tschechische Orchester, haben noch diesen vollen runden Klang.
Die Philharmoniker können nicht mehr deutsch spielen, da sie auf Teufel/Karajan komm raus in allen Registern laut spielen wollen/müssen.
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@Rattle Espressivo
Na, ich weiß nicht, vielleicht doch. Rattle hat im deutschen Repertoire durchaus auch die Kontinuität im Klang wie Barenboim, die bis zum Espressivo gehen kann. Aber klar, Klang-Schwere à la Staatskapelle ist nicht Rattles Ding. Ich finde die Berliner unter Rattle auch was das Überspielen der Metrik angeht hin und wieder schon recht deutsch unterwegs :-)
Und zu Jansons schlampig: Das war nicht zufällig das runtergenudelte Mendelssohn-Violinkonzert vom Frühjahr 2011?
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Habe in etwa so wie Siggi gehört, dh 1. Thielemann, 2. Mehta, 3. Rattle.
Von Mehta war ich sehr positiv überrascht, deswegen auf zwei.
Zugegeben, ich bin beim deutschen Repertoire kein großer Rattle-Freund, gebe ihm doch immer wieder eine Chance, bin aber diesmal enttäuscht worden: Ich fand ihn einfach zu oft viel zu laut. Bei den ff bis fff-Passagen war kein runder Klang mehr, sondern nur noch gräulicher Brei, wie wenn dreckiges Abwaschwasser im Ausguss runterstrudelt. Bei Thielemann und Mehta konnte man statt dessen eine Klangschichtung erleben, satte Streicher unten und auf deren Fundament holziges Holz und strahlende Hörner/Trompeten. Diese Ausdifferenzierung zwischen den Klanggruppen schafft Rattle im ff-fff nicht, dafür aber in den leisen Stellen. Da ist dann alles sehr getrennt, was ich da aber nicht schön finde, es ist nicht romantisch-stimmungsgeladen, sondern irgendwie skandinavisch-nüchtern (wie ja auch sein Beethoven). Letzteres – also in Bezug auf die piano-Stellen – ist zugegeben Geschmackssache; ich hab aber dennoch das Gefühl, dass die Phillis das ganz anders empfinden und nur ungern so entschlackt musizieren – und entsprechend kommt es auch rüber. Es kommt dann manchmal drauf an, wer sich durchsetzt: Rattle oder das Orchester. Beispiel war vor einiger Zeit seine Große C-Dur, im Schlussatz hatte das Orchester übernommen, vom anfänglichen Rattle’schen Kontrollwahn und dem aufgezwungenen „Nur-kein-Pathos!“ war – zum Glück – nichts mehr übrig geblieben.
Thielemann deswegen auf eins, weil er mir die 4. zum ersten Mal wirklich nahegebracht hat. Ich hatte sie immer schwächer als 7., 8. und 9. (und auch die mozartsche 5., die ich sehr mag) eingeordnet und das ist sie vllt auch. Kompositorisch hat es die 4. im Vergleich zur 8. und 9. nicht ganz leicht. Unter Thielemann habe ich sie zum ersten Mal wirklich gebannt verfolgt, gebe aber gern zu, dass da noch Steigerungen möglich sind.
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@wer sich durchsetzt
Mit dem Durchsetzen ist das so eine Sache. Das Hauptmanko beim letztjährigen Konzert der Dresdner Philharmoniker beim Musikfest unter Thielemann war meiner Meinung nach, dass das Orchester 100%ig so gespielt hat, wie es wollte (u.a. Brahms 1.), und Thielemann wollte wohl auch nichts anderes. Auf die Wünsche des Orchesters einzugehen, das kann er besonders gut, gebe ich zu, aber mit fehlte das Salz in der Suppe. Übrigens fand ich die Dresdner als eine der Exponenten deutschen Klangs doch sehr monochrom, im Detail erstaunlich unterentwickelt.
Aber das ist wohl alles eine Frage der Hörgewohnheit und sicherlich auch des Geschmacks, vor allem wenn man andauernd von den Berliner beschallt wird… Ich finde Rattles Vorliebe für möglichst unabhängig voneinander geführte Stimmen, sowohl im pp als auch im ff, schon sehr faszinierend. Mit Rattles Vierter Anno 2006 bin ich übrigens allerdings auch nicht rundum glücklich geworden, tue mich aber auch schwer mit der 4.
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Da ich selber Dresdner bin, lass ich auf die nichts kommen! Aber die Beobachtung hab ich auch schon gemacht, Thielemann fühlt sich da so wohl, dass er wirklich gar nicht viel will, sondern einfach nur spielen lassen…
Ich mein auch nicht, dass ein Orchester gar nicht geführt werden soll, ich find nur, dass Rattle manchmal (manchmal will er auch gar nichts: „seinen“ Brahms, den ich nur von der Platte kenne, hätten die Phillis ohne ihn genauso gespielt) Dinge will, bei denen ihm sein Orchester nicht oder nur widerwillig folgt. Sein Ziel scheint mir ein nordeuropäisch-trocken-hellholziger Klang zu sein; manchmal spielen die Streicher auch so, doch dann kommt einer der männlichen Solisten-Diven aus dem Holz und legt da expressissivo seine Kantilene drüber, das klingt doch oft etwas eigen. An guten Abenden scheint mir Nagano dem von mir vermuteten Rattleschen Klangideal näher zu kommen.
Wie auch immer: heute Abend lass ich mich gern auf das Abenteuer „Rattle und Beethoven“ ein…
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