Man lernt nie aus. Im Radialsystem gibt es Online-Konzerte, die ausverkauft sind. Drei Minuten vor Beginn will ich mein Ticket für das Trio Catch mit Musik von Daniela Terranova erwerben – geht nicht, ausverkauft. Dann eben Jack Reacher mit Tom Cruise geschaut. Wo im deutschen Fernsehen gibt eigentlich noch vernünftige Verfolgungsjagden?

Derweil nimmt die Zwanziger-Hommage der Berliner Philharmoniker Konturen an. Bei der ist man für 9,90 die Woche dabei – nicht ganz so umsonst wie die Radiokonzerte von RSB und DSO, aber auch nicht teurer wie eineinhalb Flaschen Bordeaux im Edeka. Das Philharmoniker-Archiv ist inklusive – plus etlichen Karajana. Den gibt es heute Abend live, nicht als Herbert, aber als Karajan-Akademie unter der jungen Marie Jacquot. Im Dezember sollte Jacquot beim DSO das Schumann-Cellokonzert und Strauss‘ f-Moll-Sinfonie leiten. Das Programm heute: Hanns Eislers mit kargem Kolorit reüssierende Orchestersuite Kuhle Wampe, Weills nüchtern-verspieltes Violinkonzert von 1924 und Weills 2. Symphonie, uraufgeführt 1934 beim Concertgebouworkest unter Bruno Walter.

Das Violinkonzert fesselt. Jacquot achtet auf fließende Konturen, macht einen Bogen um modernistische Kantigkeit, lässt stattdessen das Werk bunt und charmant wie ein Gelächter kichern. In diese Linie fügt sich Kolja Blacher mit seinem warmen Geigenton. Man merkt, dass Blacher die Ruhe weg hat. Ein wohltuender Kontrast zu dem Nähmaschinen-Gefiedel so mancher Geigen-Jungstars. Ganz nebenbei bringt Blacher auch noch die Figurationen, die alles andere als nur flinkes Virtuosenfutter sind, zum Sprechen. Das Weill-Konzert besitzt übrigens, Zwanziger hin und her, eine berückende Solohorn-Stelle. Die Sinfonie Nr. 2 überträgt den Songstil in die symphonische Form, besonders in den Ecksätzen, dort tönt das zackig, aber auch, wo Weill purer Homophonie frönt, unterkomplex. Mein Herz schlägt für die 1. Sinfonie, die Petrenko am Samstag zum ersten Mal bei den Philharmonikern auf das Programm setzte.

Karajan-Akademie spielt Weill / Foto: Berliner Philharmoniker/Digital Concert Hall

Auch eine Lehre aus Corona: Der zugespielte Applaus der Livestream-Zuseher, so beim Wiener Neujahrskonzert, klang affig und hat sich nicht bewährt. Am Konzertende hört man jetzt das schüttere Klatschen von Musikern und den zwei, drei Technikern im leeren Saal. Das ist ehrlicher.

Unerhörte Musik bringt einen interessanten Abend mit neuer Posaunenmusik. Zu Gast im Kreuzberger BKA-Theater ist Posaunist Thomas R. Moore, Mitglied des Nadar Ensembles. Die Livestreams von Unerhörte Musik glänzen allesamt durch frugale Technik: eine stationäre Kamera, keine Schnitte, Umbau vor der Kamera, Werkpräsentation durch den schweißüberströmten Posaunisten. So geht es auch. Hier hat man quasi das Gegenprojekt zur hochkulturigen Biederkeit der auf die fernöstliche Stammkundschaft zielenden Concert Hall der Philharmoniker. Gerade hat man an der Herbert-von-Karajan-Straße den Beginn einer mehrjährigen Kooperation („Residency“) mit Schanghai verkündet. Hätte ja sein können, dass die Angewohnheit, Riesenorchester mit Riesenstäben in Jumbos um die Welt zu fliegen, in der Post-Corona-Zeit der Vergangenheit angehörte.

Aber zurück zu Unerhörte Musik. Das Motto des Solo-Abends lautet „Doublespeak – Doublethink“ (Orwell! 1984!) und thematisiert Täuschungen und Enttäuschungen. Jessie Marino verkettet in FITTINGinCommitment :: Ritual :: BiiM (2011) gestopfte Posaunen-Einwürfe zu kargen, fesselnden Bildern. Elektronische Zuspielungen dienen als Struktur und Hintergrund. Ähnlich geht Stefan Beyer in Strandung vor (2016, Fassung 2020), das sich von der trügerischen Tiefe der See inspiriert weiß. Die Posaune klingt fragil und fragmentarisch, besonders in den zurückhaltenden Tremoli. Die im Vergleich mit Marino entspanntere Sound-Atmosphäre klingt hier jedoch unverbindlich. Von Michael Maierhof kommt Splitting 53* (Uraufführung). Das Stück hat Tempo, Witz, Rhythmus – und Kraft. Schön, dass es sich auch kurzweilig gibt. Wobei während des heutigen Abends nicht immer klar ist, wann genau welches Stück beginnt. Der Belgier Wim Henderickx hinterlegt Akasha (UA) leider mit Soundschichten, die in purer Begleitfunktion verharren. Davor entfaltet sich ein Salat aus sparsamen Posaunenlauten und dezenter Stimmakrobatik. Schlussendlich von Mirela Ivičević die ironische Selbstanpreisung Orgy of References, die auch bei Ultraschall 2020 zu hören war und als überdrehtes Dauer-Parlando eines nervtötenden Werbefuzzis immer noch Witz und Eindruck macht, zumal wenn es so kongenial interpretiert wird wie von Moore. Gerade das Richtige, wenn der Corona-Frust gar nicht mehr aufhört. Wer will, erwirbt bei Unerhörte Musik ein virtuelles Ticket.

Das Deutsche Symphonie-Orchester spielt am Sonntagabend Sinuous Voices des umtriebigen Adámek sowie von Martinů die Kurzoper Slzy Nože (Die Tränen des Messers) in originalsprachlicher Besetzung. Die vokale Rutschpartie, die Sinuous Voices (kurvige oder verschlungene Stimmen) verspricht, versucht das Stück einzulösen, indem es den Hörer auf eine Achterbahnfahrt schickt. Tremoli und Wellenbewegungen bestimmen die musikalische Struktur. Der helle, ironische Raum, den Sinuous Voices öffnet, ist sicherlich sein Hauptmerkmal. Doch gewinnt das Werk flugs auch rabiate Präsenz, besonders in den kurzen, präzisen Einschlägen im zweiten Teil. Ironisch ist das passende Stichwort. Denn Adámek, der unmerklich virtuos komponiert, ist darauf aus, den Zuhörer die Anstrengung des Komponierens auf keinen Fall merken zu lassen. Unter Ticciati stellt das DSO besonders die nervöse Kraft, die witzigen Bewegungsimpulse der Verschlungenen Stimmen heraus. Mit konzertanten Opern tue ich mich schwer. Deshalb hier nichts zu Slzy Nože. Aufgezeichnet von Deutschlandfunk Kultur und hier nachzuhören!

Super. Das Rätsel um das ausverkaufte Konzert des Trio Catch im Radialystem ist schnell gelöst. Ein interaktives Konzert, maximal 50 Zuschauer, eine Art musikalisches Zoom-Meeting. Nächstes Corona-Catch-Konzert findet am 8. 3. statt.

Zum Schluss eineinhalb Minuten Verwunderung, nämlich durch die sehenswerte, witzige Nocturne Lockdown Version, komponiert von Mátyás Wettl, interpretiert vom Nadar Ensemble.