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Still und heimlich polieren die hauptstädtischen Philharmoniker ihre Saison-Philosophie auf. Das ist relativ neu im Saison-Kalender der Berliner: Im Februar präsentiert eine „Biennale“ die golden genannten 1920er Jahre (mit Weill- und Hindemith-Schwerpunkt), aktuell bespielt ein „Wochenende Neue Musik“ hochkarätig den Kammermusiksaal. Dazu schicken die Berliner Philharmoniker zwei ihrer wendigen Kammerformationen ins Rennen, am Samstag das Scharoun Ensemble, am Sonntag KlangArt Berlin (21 Uhr). Zuvor (17 Uhr) spielt das altehrwürdig verjüngte Arditti Quartet. Komponistinnen von Betsy Jolas bis Sofia Gubaidulina kommen in drei Konzerten philharmonisch-bewährt hochkompetent zu Wort.

Ich besuche das Spätkonzert von KlangArt Berlin, dessen Trio-Besetzung (M. Heinze Bass, J. Schlichte Schlagzeug, H. Gneitling Klavier) je nach Stück-Erfordernis durch Mitglieder der Philharmoniker erweitert wird. Bis zum Oktett reicht die Ensemblegröße, das zeigt nicht nur die Flexibilität der Neuen Musik, sondern auch deren Zugriffsoptionen auf Hörerfahrung und Klanggewohnheit.

Der Abend dauert gut 60 Minuten, zumindest im Kammer-Bereich scheint dies das Format der Stunde. Von Sofia Gubaidulina (geb. 1931) erklingt Die Pilger (2014). Die Pilger sind Alterswerk wie alles, was Gubaidulina seit der Jahrtausendwende komponiert, und von frappierender Klarheit und Klangsinnlichkeit (kadenzartiger Ausraster des Vibraphons). Zwischen ironischem Theaterdonner (Pauke, Klavier) und Abstiegen, die endlos in die Tiefe führenden Treppen ähneln, spannen sich die Deutungsoptionen. Hut ab!

Dann als Uraufführung und Auftragswerk Ofrendas, komponiert von der Mexikanerin Hilda Paredes. 20 Minuten Musik, deren Zurückhaltung hintergründig und deren Musizierdrang etwas wahllos scheint. Doch dem Pizzicato-Tänzchen von Kontrabass und Konsorten lausche ich dann doch gerne.

Der Saal ist corona-typisch karg gefüllt, besetzt wird jede zweite Reihe, Abstand zwei oder drei Sitze, Einzel- und Paarsitzer halten sich die Waage. Aber die Atmosphäre ist lauschiger als in der weiten Philharmonie-Schüssel. Schachbrett-Befüllung mit Permanentpflicht (Maske) wagt man in der Philharmonie erst ab November.

Zuletzt Oktett für vier Violinen, zwei Oboen, Pauken und Klavier von Galina Ustwolskaja (1919-2006), deren Sinfonien harte Kost sein können, vor allem, wenn man nicht an die orthodoxe Kirche glaubt. Das Stück von 1950 (UA 1970) aber ist erstaunlich. In fünf Abschnitte oder Sätze gegliedert, fesseln vor allem die Sätze I und III in ihrer frappierenden Monotonie (Oboen, D. Wollenweber und C. Hartmann). II und IV sind bewegter, aber nun tatsächlich monotoner. II macht den Eindruck einer wilden Prozession, während IV von der ostinaten Pauke dominiert wird. V lebt vom Wechsel aus Schlagmotiv der Pauke und dem aus I übernommenen Klageton von Geigen (C. Gartemann, H. Küden, Bettina Sartorius, S. Roturier) und Bläsern.

Was am Sonntag den Berliner Philharmonikern ihre Russen, sind am Montag der Staatskapelle Berlin die Italiener.

Luciano Berio (1925-2003) und Luca Francesconi (geb. 1956) stehen im Mittelpunkt eines Abends mit Mitgliedern der Staatskapelle. Das Kammerkonzert ist zugleich Erkundung einer Werklandschaft, deren Zentrum die Francesconi-Oper Quartett (derzeit an der Staatsoper) bildet. Und weil das Libretto von Quartett von Heiner Müller stammt, lesen im Pierre Boulez Saal Tochter und Witwe des Dramatikers aus Müller-Texten.

Der Abend bestätigt den positiven Eindruck, den Francesconis Komponieren anlässlich der Opern-Premiere von Quartett hinterließ.

Lichtschatten badet in Klanglicht, ein federleichter Schuss Mittelmeer ist dabei (auf Flügeln des Flöten-Gesangs: Claudia Stein), Insieme II (2016) präsentiert sich nicht minder hell und sonnig, verortet sich irgendwo zwischen parlando und scherzoso, koppelt virtuos Komplex und Kunterbunt. Und schafft es, unentwegt triftig zu tönen. Auch mit dabei: Konzertmeisterin Jiyoon Lee.

Zwischen die rezitierten Heiner-Müller-Texte schieben sich kurze Stücke von Berio aus den 6 Encores. Sie sind klassizistisch in der Haltung allesamt: Leaf (1990) gefällt als feine staccatissimo-Studie, das i-Tüpfelchen bei Wasserklavier (1965) sind die Ausflüge der Linken in die Diskant-Region, Erdenklavier (1969) verschachtelt leise und laute Noten ineinander, Brin (1990) ist ein geheimnisvolles pppp-Stück. Giuseppe Mentuccia, der auch leitet, spielt am Klavier sehr klar, am Vibrafon steht Dominik Oelze (Brin). Die rezitierte Schlussszene aus Quartett gerät zu lang. Anna Müller, 26, mit der Emphase der Jugend Wort und Klang balancierend, und Brigitte Maria Müller, 55, nüchtern, süddeutsch gefärbt rezitierend und mit der Ahnung eines Lispelns, sprechen.

Masken-Faux-pas im Boulez Saal! Im Corona-Fernduell zwischen Kammermusiksaal und Pierre Boulez Saal gewinnt der Saal an der Scharounstraße. Was ist passiert? Im KMS darf während des Konzerts abgenommen werden, im Boulez Saal gilt Permanzpflicht. Dumm nur, dass an der Französischen Straße mitgebrachte Masken erst gar nicht in den Saal dürfen, stattdessen verteilt man FFP2-Masken (das Personal ist aber echt freundlich im Boulez Saal). Und super-dumm, dass mein Modell ein Mini-Modell ist, derart beengt atmet es sich schwer, und das verdammte Gummi bedrängt die Ohrmuschel wie der Scarpia die Tosca im Palazzo Farnese.

Dennoch. Ein (verlängertes) Wochenende mit auffallend frisch programmierten Musik-Abenden. Es ist immer gut, wenn die großen Orchester ihre hoch-innovativen Kammer-Formationen von der Leine lassen.