Premiere und deutsche Erstaufführung von Ti vedo, ti sento, mi perdo von Salvatore Sciarrino.
Eine „Oper“, wie die Bezeichnung sagt, aber nicht vielleicht doch eine „Handlung“ nur, eine azione? Alles dreht sich um den vermeintlichen Jahrhundertmusiker Alessandro Stradella, der im Palazzo Colonna, wo eine barocke Bühne zusammengebaut wird, sehnlichst erwartet wird. Die Proben sind in vollem Gange. Alle warten auf Stradellas neue Arie. Doch Stradella kommt nicht. Er wurde ermordet. Nichts wird’s mit der Aufführung der geplanten Kantate. Zwischendurch ist viel Zeit für Klatsch, Tratsch und philosophische Diskussionen. Alles wie im echten Leben? Alles?
Vielleicht. Jedenfalls verrät der Sehnsuchtstitel von Sciarrinos 2017 in Mailand uraufgeführter Oper (Ich sehe dich, ich spüre dich, ich verliere mich), dass die Handlung auch noch anderes bereithält als Bühnentratsch und Eifersüchteleien.
Die Oper ist Sciarrinos elfte. Zu Sciarrinos Musik schrieb ich anlässlich der Aufführung von Luci mie traditrici vor zwei Jahren: „präzise wie ein Schweizer Uhrwerk, poetisch wie Blätterrascheln und thrilling wie Hitchcock“. Auch in Ti vedo gibt sich die Musik scheinbar federleicht. Merkmale sind minimalistische Bläserkürzel, fauchende Geräuschklänge, Tonwiederholungen in Flüsterlautstärke. Wie in anderen Werken Sciarrinos bestehen Brücken zur Tradition, in diesem Fall zu Stradellas Kompositionen. Barockes klingt neben Zeitgenössischem, Vergangenheit neben Zukunft. In den einzelnen Zellen ist Sciarrinos Musik immer kantabel, sie lässt sich nachsummen. Und dann wieder diese Durchbrüche, die wie ein proto-barocker Gegenentwurf zum modernen Minimalismus wirken: Am Ende des 1. Akts baut Sciarrino Labyrinthe aus düsteren Posaunenlinien.
Ebenso überraschend wird gesungen. Die Protagonisten halten Silben, dehnen sie zu Crescendi und Glissandi und wiederholen diese obsessiv. Silbengeschnatter! Stotter-Parlando! Gesungene Aufwärts- oder Abwärts-Glissandi dienen als Chiffren des Textes, oft nur grundiert von den Vibrationen des Donnerblechs. Sciarrino komponiert so, dass der Zuhörer denkt, der Sänger wäre dümmer als der Hörer, ein Trick Sciarrinos, um den Hörer bei der Stange zu halten.
Jürgen Flimm (Regie) antwortet auf Sciarrinos Obsession, indem er den Regie-Hahn voll aufdreht. Er setzt nicht aufs Karge, sondern aufs Üppige. Wir sehen viel Bewegung auf der Bühne, Figurenwiederholungen, Extra-Gestchen hier, Zusatz-Szenchen da, die Kostüme sind ein Traum aus Stoff, Rüschen und Farbe, echtes Theater-Barock. Auch die Personenführung ist verspielt. Arme und Beine zappeln in kollektiver Automatengestik wie unter Wiederholungszwängen. Dazu lässt Flimm Gesten exakt mit Aktionen des Orchesters synchronisieren. Manches wirkt wohlfeil, wie etwa dass da plötzlich ein Wotan mit Speer und Flügelhelm so gottverlassen auf der Bühne steht, dass nur eine Balletteuse im zartesten Kinderalter ihn von der Bühne führen kann. Und als eine Armada aus Balletmädls hereingetragen wird, weiß der Zuschauer doch in der Tat nicht, wie das zu deuten sei. In dubio pro Flimm, sagt man sich und hofft, eine weitere Aufführung wird’s weisen. Meist aber macht Flimms Bühnen-Halligalli Sinn, denn er transportiert die Exaltationen von Libretto und Musik ins Visuelle. Gleiches gilt für die abgedreht skulptierten Frisuren (zweihornig oder dreikegelig, Haarwisch nach rechts oder nach links). Dass die Bühne (George Tsypin) eine realistisch geschilderte, barocke Opernbühne darstellt, ist fast nebensächlich, so sehr nehmen Partitur und Bühnengeschehen gefangen.
Sängerin Laura Aikin (zuerst im rosa, dann im pfefferminzgrünen Paradekleid, Kostüme: Ursula Kudrna) wirft mit Vokalen wie mit Konfetti um sich, verfügt über einen genauen, dynamisch flexiblen und klangreichen Sopran, der nur ein ums andere Mal sehr leise klingt. Auch der Rest des Ensembles fügt sich vorteilhaft ein. Tenor Charles Workman (lange Poussin-Haare, blauer Wams, keinen Espresso ablehnend) deutet den Musiker überzeugend. Otto Katzameier (roter Rock, roter Schirm) bietet den Literaten als eine vortreffliche Charakterstudie eines allezeit Missgünstigen. Anmutig agieren Sónia Grané als zappelige Pasquozza mit Hütchen und Halskrause und Lena Haselmann als umtriebige Chiappina mit windverwehtem Haarwisch. Countertenor Thomas Lichtenecker steckt als Solfetto in blauem Wams, trägt drei Haarkegel und stutzt im 2. Teil mit Hingabe Buchsbaumkugeln. Mit von der Partie sind auch David Oštrek als Sänger (schöner weicher Bassbariton), Finocchio Christian Oldenburg (Bariton) und Minchiello Emanuele Cordaro (roter Wams, graue Mähne), dessen Stotterkaskaden wie ein Echo auf Laura Aikins Schluckauf-Koloratur wirken.
Der Chor wird mit Schminke-Pausbäckchen aufgepeppt und setzt sich aus Sarah Aristidou (die mit dem Korkenzieher-Goldhaar), Olivia Stahn, Magnús Hallur Jónsson, Matthew Peña (der in der Karo-Weste), Ulf Dirk Mädler und Milcho Borovinov zusammen. Der junge Franzose Maxime Pascal leitet kompetent. Das zahlenmäßig kleine Orchester der Staatsoper (das große trumpft derweil in Buenos Aires mit dem alten Kupfer-Tristan im Gepäck groß auf) wird den Anforderungen in allen Belangen gerecht.
Fotos: Clärchen und Matthias Baus
Sie haben Recht, eine gelungene Premiere, die dank einer fulminanten Inszenierung sogar spannend war. Dennoch ist Sciarrino ein Komponist der zwar interessant aber auch hauptsächlich schön schreibt und darauf seinen Erfolg beim Publikum gründet. Die Schönheit der Stimmen, die pure Schönheit des Orchesters, so what? Ich kann nur sagen dass mir das Drama gefehlt hat. Und macht der Komponist es sich mit dem Einbau wenn auch verfremdeter barocker Fragmente nicht zu einfach? Einige Barockeinlagen fand ich definitiv zu lang um nicht zu sagen langweilig. Ein schaler Geschmack bleibt auch deshalb, weil die Parallelen zu Capriccio und Ariadne auf Naxos relativ offensichtlich sind. Obendrein fragt man sich als langjähriger Operngeher ob es nun wieder die x-te selbstreferentielle Oper sein muss? Kann ja sein dass Sciarrino einen Haufen beeindruckender Anspielungen zu Dichtern und Komponisten und Künstlern eingebaut hat, aber was ist der Nutzen davon? Das Italienisch einiger Herren war eine Beleidigung für die Ohren.
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Sehr sehr schöne Kritik!! Kurz zum Orchester: 14 Instrumentalisten (geteilt zwischen Bühnenmusiker und Musiker im Graben) sind vom Opera Lab Berlin Ensemble, mit dem die Staatskapelle für die Produktion zusammengearbeitet hat.
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