HIER DIE KRITK DER BRUCKNER SINFONIE 7 MIT RATTLE VOM MAI 2014 LESEN!
Bruckner Sinfonie Nr. 7. Berliner Philharmoniker, Rattle.
Es gibt zwei Sorten englischer Brucknerfreunde. Die einen sagen „Brookner“, die anderen „Brukkner“. Die ersteren sind überwiegend Melancholiker. Heute saß ein „Brookner“ neben mir. Wir kommen ins Gespräch.
Brookner meint, er schätze Bruckner mit Thielemann über alles. Brookner schätzt auch Rattle. Das tun alle Engländer, auch wenn sie Thielemann-Fans sind, ein Paradoxon, zu dem ihre deutschen Pendants sich nicht herablassen. Brookner meint diplomatisch: „Great Brookner. Awesome Simon“. Diese Engländer…
Das Thema im 1. Satz beim 1. Mal nicht perfekt intoniert, macht nix. Es dauert bis zum 2. Thema des Adagio, bis ich den Standpunkt des interessierten Zuhörers verlasse und den des höchst aufmerksamen einnehme. Es herrscht flüssiges Tempo. Simon Rattle unterbindet Nachklang-gesättigte Generalpausen. Es scheint, als wolle Rattle sogar den Atem der abebbenden Phrase in die beginnende hinüberretten. Daher die flüssige, so ein bisserl im Unbestimmten gelassene Architektur. Es kennzeichnet die Philharmoniker heute Abend: Schub aus jeder Aktion. Volldampf auch bei untergeordneten Streicherlinien, Vermeidung formaler Plattheiten (Man muss nicht immer merken, dass genau jetzt und keine Millisekunde später die Reprise einsetzt). Es gibt Crescendi im Stile heißblütiger Gletscherabbrüche. Expansionsfelder im Stil von Klimakatastrophen. So ähnlich jedenfalls ist der Eindruck.
Daher die wogende Unruhe im Adagio. Das ist weit entfernt von den objektiv gedachten Empfindungshochflächen klassischer Brucknerdirigenten.
Man kann sich nicht vorstellen, dass Wenzel Fuchs im Finale zwei so frei swingende Klarinettenaktionen – gegen Ende des ersten Themenfeldes – unter Thielemann spielt.
Die Philharmoniker gestatten Bruckners melodischer Substanz Aufblühen nur im vorübereilenden Verglühen. Einiges klingt sportlich. Doch es gelingt ein Brucknerfinale, das lebendig bis in die Substanz hinein ist. Selten beeindruckender gehört.
Daher die zersplitternde Gewalt des Klimax im Adagio. Auch Brookner war das nicht geheuer, wenn ich eine seiner Anmerkungen richtig verstand („Oh my god“). Müde Soft-Aufwallungen der Streicher. Der das Adagio schließende Blechchoral beweist unter Rattle Sibelius-nahe Kargheit. Zentrum scheint mir das Scherzo, das Rattle in unmittelbarer Härte realisiert. Betäubende Schlussgewalt der Sätze 1, 3 und 4: scharfes, zu brennender Heftigkeit gesteigertes Strahlen der Geigen, die wie Röntgenstrahlen durchs Blech, besonders die gleißende Glut der höchsten Trompeten, schneiden.
Zu Beginn Boulez‘ Notations (in der Reihenfolge I, VII, IV, III, II). Die Notations, für schweren Apparat geschrieben, sind von einiger Kürze. Die Auswahl des heutigen Abends dauert kaum 19 Minuten. Boulez‘ Notations scheinen als wild und schattenlos aufgefächerte Klanglandschaft. Kommt der statisch-diamantscharfe Klang von Boulez‘ Klassizismus oder vom wuchtbrummigen Perfektionismus der Philharmoniker? Keine Ahnung.
Streicher bei Bruckner 7.: 18, 16, 14, 12, 10 (klassische Doppelstufentechnik). Stabrawa Konzertmeister. Bläsersolisten: Andreas Blau, Wenzel Fuchs, Albrecht Mayer, Stefan Schweigert. Gabor Tarkövi: lässige Trompetenrufe im Scherzo.
Eine bewunderungswürdige Interpretation bei Boulez – klar und saftig, einfach ein Genuss. Die Kombination mit Bruckner war für mich ein ein erhebendes Erlebnis. Die Berliner Bläser sind einfach die besten.
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@Berliner Bläser
Darüber kann ausführlich gestritten werden. Die Hörner der Wiener Philharmoniker sind eine Wucht, und wenn das Concertgebouworkest in Berlin ist, bekommt man bei der Flötistin Ohrenschlackern und die Solo-Oboe habe ich auch in sehr guter Erinnerung.
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Na, ich bin trotzdem für die Berliner ;-(
Die vier Hörner spielten astrein, obwohl die „Promis“ unter den Hornisten im Konzert die Wagnertuben spielten (Dohr, Willis, Jezierski). Stefan Dohr hatte richtig Zeit, sich ausführlich umzuschauen.
Dohr wird übrigens im Figaro folgendermaßen genannt: „un ogre souriant“ :-)
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Ungewohnter Bruckner, der mit einmaligen Eindrücken im Gedächtnis haften bleiben wird. Der Blechbläserchoral wurde heute Abend (Freitag) übrigens von dem sekundenlangen Quietschen der Saaltür Parkett links untermalt, die eine den Saal verlassende Dame verursacht hatte. So was habe ich auch noch nicht erlebt.
Ja, kein „klassischer“ Bruckner, aber ein unvergesslichler Bruckner, den ich von Beginn an sehr intensiv miterlebt habe. Im Adagio hat mir die „nervöse“ Herangehensweise von Rattle sogar zugesagt. Ovationen für Simon Rattle, der heute Abend gezeigt hat, dass man die alten Bruckner-Heroen (Jochum, Klemperer, Karajan) nicht nachahmen muss, um eine Interpretation zu schaffen, die mitreißt.
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Eine sehr unsachliche Kritik. Rattle ist kein Brucknerdirigent. Er kann keinen Bruckner und er wird ihn niemals können. Das sollte jeder höhren, der in der Philharmonie schon ganz andere Dirigenten mit Bruckner gehört hat. Dass er bei Boulez nicht schlecht war, kann ich konzedieren.
Mit vielen Grüßen
P. Holsten
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Was bitte ist ein „Brucknerdirigent“. Diese ganzen Schubladen die die Dilettanten immer aufmachen, auch die Orchestervergleiche wie auf dem Viehmarkt, ach Gott, was für ein irrelevanter, unmusikalischer Schmarrn.
Impotenz die Unendlichkeit der Musik im Moment zu erleben. Man hält sich mit Kategorisieren auf, das haben die sog. „Bildungsbürger“ ihr Leben lang gelernt. „Brucknerdirigent“, „Neandertaler“, „vom Stamme der Irokesen“, es ist wohl des Gymnasiallehrers Art.
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Hat moshet Günter Wand in den späten 1990er Jahren mit den Berliner Philharmonikern gehört? Etwa die 9. Sinfonie oder die 4.?
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Hat er, er war sogar bei einigen Proben dabei.
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Und dennoch empfinden Sie Rattles Bruckner als gültiger? Meinen Eindrücken nach kamen die Interpretationen Günter Wands dem Ideal dessen, wie Bruckner klingen kann, sehr nahe, was übrigens meinen Informationen zufolge die Musiker damals mehrheitlich ebenso empfanden.
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Vielen Dank für Ihren Kommentar.
In der großen Philharmonie haben viele Meinungen Platz. Womöglich eine subjektive, voreingenommene, parteiische – auch ich konzediere – Kritik, aber vielleicht keine vollkommen unsachliche Kritik.
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Herbert von Karajan ist auch heute noch „das Maß aller Dinge“ bei der Interpretation von Anton Bruckner. Dieses hat Simon Rattle nicht annähend erreicht. Die 7., in der digital konzert hall von mir mitgehört, kam rüber wie ein Lied ohne Worte…, schade.
Nun, auch ein Simon Rattle kann das Rad nicht neu erfinden und jedes Mal das Besondere interpretieren. Bruckner kann er aber offenbar nicht. (…)
Die Berliner glänzten jedoch mit einem wunderschönen Klang, besonders die Hörner/Tuben/tiefes Blech und Trompeten, wobei ich die letztgenannten gern etwas deutlicher vernehmen würde, aber dieses ist heute nicht mehr modern…., wo gern angeblich „homogener“ Einheitsbrei serviert wird.
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Ist denn eine Interpretation von Bruckner ein „Ding“? … puffffff schon platzt die Seifenblase intellektueller Flatulenz.
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Habe vor 2 Wochen mal wieder in Karajan 2. und 3. Bruckner reingehört (Anfang 80er).
Klassizistische Sportlichkeit – Ozawa machte so was vor 3, 4 Jahren mit der 1. -, unerschütterliche Meisterlichkeit der Temponahme, unbestechliche Linien. Die Streicher bisweilen in kammermusikalisch gelockertem Verbund – beeindruckend. Die Bläser schärfer als heutezutage. Anfangs immer befremdlich ist das Nebeneinander von heftigem Lyrismus und Napoleonismus („radiates an aura of superiority“). Die Karajanaufnahme der 7. finde ich bislang eher uninteressant.
Den Willen zur Genauigkeit, etwa beim Ausphrasieren, zeigt Rattle übrigens ähnlich wie Karajan, wie ich finde. Für beide ist Bruckner ein Faszinosum, dem man am besten mit Religion und Fanatismus beikommt, wobei Karajan mehr zu ersterem neigt, Rattle zu zweiterem.
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Und übrigens: Es ist so eine Sache mit der Digital Concert Hall. Es kann sein, dass ein aufregendes Konzert, live gehört, digital kaum klingt. Ich weiß nicht, wie die das machen, aber das Digitale killt die Aura. Immerhin kann ein live kaum überzeugendes Konzert digital sehr wirksam sein, was zumindest eine ausgleichende Gerechtigkeit ist.
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So ist es, aber es ist egal ob die Aufnahemtechnik digital oder analog ist, was „killt“ ist das Reproduzieren an sich. Einige Aspekte einer Aufführung können einfach nicht technisch reproduziert werden weil sie die unmittelbare Anwesenheit aller Sinne im gleichen Raum im „Jetzt“ erfordern. Keine noch so hoch entwickelte Aufnahmetechnik kann das in Ton und Bild reproduzieren. Dafür kann eine Aufnahme Vorteile gegenüber dem Liveerlebnis in Reihe 27 haben was Balance und Klarheit des Klanges betrifft.
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Müßiger Streit.
Danken wir Gott, dass Rattle nicht wie Karajan dirigiert. Karajan hat seine Chance gehabt und weidlich genutzt.
Die Geschichte hat ein Blatt umgeblättert.
Was ist Schlimmes daran?
Punkt 1: Tempo
Ebenmäßiger musikalischer Fluss war und ist ein Ideal, aber man kanns eben auch anders machen. Beim Dirigieren mit Ebenmaß gehen Details verloren, die bei einem „unruhigeren“ Dirigat unvermutet „aufblühen“. Rattle nervöses und energisches Handling ist eine hochinteressante Alternative.
Punkt 2: Dynamik
Ja mei. Die einen mögens laut, die einen nicht. Die einen lieben Terrassendynamik bei Bruckner bis zum Erbrechen, die anderen hören gerne dynamisches Chiaroscuro. Es kann ja durchaus interessant sein, wenn ein sattes dynamisches Sfumato die Kanten umspielt.
Also alles halb so wild.
Günter Wand ist übrigens auch schon tot.
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Adagio – da waren diese wahnsinnig warmen Streicher. Herrlich.
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