Ein nostalgischer Berliner Spätwinterabend, der Robert Schumann mit zwei altersweisen Altmeistern kombiniert. Zugleich Auftakt für einen interessanten Dutilleux-Lutosławski-Schumann-Mini-Zyklus.
Krystian Zimerman spielt. Barbara Hannigan singt. Das alleine reicht für mindestens zwei Ewigkeiten, die heute Abend 2:15 Stunden brutto dauern.
Lutosławski: Zimerman, der Uraufführungspianist, spielt. Das Klavierkonzert wurde sehr genau komponiert und verzichtet auf Effekte. Genialer Beginn (Bläser), genialer Schluss (Celli, Bässe). Krystian Zimerman: mathematische Klarheit, durchdachte Poesie. Er spielt mit einem Konzentrationsgrad, den Normalsterblichen nicht erreichen, auch wenn sie regelmäßig die Philharmoniker hören. Federnder, stählerner Anschlag. Krystian Zimerman hat was, das an Christoph Waltz in Django Unchained erinnert, nur dass dieser kein Klavier spielte. Vorteil des Klavierkonzerts: Es ist komplex genug, um es nicht gleich beim ersten Mal zu verstehen.
Nachteil des Klavierkonzerts: Es gibt Solo-Stellen, die sind etwas weniger interessant. Gut 25 Minuten. Konzertmeister Guy Braunstein hört nicht auf zu klatschen. Einer der Favoriten für die gelungenste Interpretation eines Klavierkonzerts der Saison 2012/2013.
Die Dame vor mir: „Dit war wie im ‚Schwarm‘ von Schätzing. So: ‚zzzzzzzzz…‘ Ich hab lauter Quallen gesehen.“ – die Stelle zu Anfang, als Geigen und Bläser eine schwirrende Bewegung erzeugen.
Dutilleux: Ich bin versucht zu sagen, dies seien die am besten komponierten Stücke des Abends gewesen, wobei „am besten komponiert“ natürlich nicht gleichbedeutend mit „die besten“ sein muss. „Correspondances“ zeichnet ein außerordentliches Klangempfinden aus. Die Berliner Philharmoniker, das Uraufführungsorchester, spielen auf der Höhe der Partitur. Nette Akkordeon- und Tubastelle (Alexander von Puttkamer) im 3. Stück („A Slava et Galina“). Barbara Hannigans Sopran vermittelt ein Gefühl großer Klarheit. Das Vibrato wird durch Tonklarheit gebändigt, und diese bereichert jenes. Meine Sitznachbarin, als Hannigan im blauen Kleid, das violett schimmert, hereinspaziert: „Oooch…“ Die freien Oberarme und Schultern sind noch schmaler, aber weniger muskulös als bei Anne-Sophie Mutter. Elle serait une Mélisande assez charmante, was man von Frau Mutter nicht sagen kann. Ob ihr Französisch adäquat war, soll Solène Kermarrec entscheiden. Dutilleux‘ Briefwechselmusik erinnert im Vorrang des Klangkontinuums vor der thematischen Prägnanz doch an Rattles Schumann. Frau Hannigan, deren Ligeti unter Rattle aus 2010 unvergessen ist, sieht aus einem gewissen Blickwinkel (D rechts) aus, als würde sie im neuen Kill Bill 3 die Hauptrolle spielen.
Die Dame vor mir beim Rausgehen zu Dutilleux: „Das war auch so ne Sache, die mich nich so…“ Pause. Bedeutungsvoller Seufzer. „Aber Schumann…“ Strahlendes Gesicht.
Schumann: Rattles Gespür für die schwärmerische Nervosität, die schwerfällige Sattheit, die umständliche Heftigkeit Schumanns kommen Dritter Sinfonie und Genoveva-Ouvertüre (berlinerisch: Uwatüre) zugute. Entzückende Bläser-Intimitäten. Sehr wichtig ist Rattles Fähigkeit, eine Kontinuität des Klangs herzustellen, die eine Klammer über alle Teile legt. Claudio Abbado brauchte letztes Jahr für Genoveva ein kleines bissl länger, bekam deutlich mehr Applaus und war nur halb so spannend.
Janne Saksala erster Kontrabassist. Stefan Schweigert Fagott, Andreas Ottensamer Klarinette, Andreas Blau Flöte, Jonathan Kelly Oboe.
Kritik Schumann, Lutosławski Klavierkonzert Krystian Zimerman, Dutilleux Correspondances Barbara Hannigan: schönes Konzert, in dem Schumann die Avantgarde und Lutosławski und Dutilleux die behutsame Erneuerung repräsentierten.
Dutilleux und Lutoslawski gut, das andere mittelprächtig.
Zimerman hat mir sehr gut gefallen. Der polnische Pianist spielte viel zupackender als bei der Aufnahme des 1. Brahms-Konzerts mit Rattle von 2006. Die Berliner Philharmoniker waren sowohl bei D. als auch bei L ausgezeichnet eingestellt. Offensichtlich wurde lange und gut geprobt.
Was eventuell bei Schumann nicht der Fall war, siehe Hornschnitzer in der Genoveva. Rattles Schumann sagt mir aber per se eher weniger zu.
Zu schwülstig für mein Empfinden.
Claudio
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Bravo Rattle!
Great Schumann
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Nicht genug geprobt kann kaum sein. Die Philharmoniker haben die 3. Schumann schon im Herbst hier und auch auf Konzertreise gespielt.
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Stimme dem hier zu – „überfrachtet“ – http://www.kulturradio.de/rezensionen/buehne/2013/bpho_rattle.html
VG
Claudio
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Jaja, die Sache mit der Durchhörbarkeit. Wer durchhören wollte, der konnte am Freitagabend durchaus durchhören. Ansonsten ist es eine Sache, die in den Bereich des Geschmacks fällt, ob mans tendenziell durchsichtig oder tendenziell voll will. Zu viel Durchhörbarkeit mindert den Inhalt, zu wenig Energie die Glaubwürdigkeit.
Grüße A.S.
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Aha, zu viel Streichermus mindert aber auch den Inhalt.
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Klaro. Eine Schumann-Symphonie braucht meiner Meinung nach aber nicht durchsichtiger ausschauen wie Kate Moss in ihren besten Bulimie-Zeiten. Das kann man meinetwegen mit Agon/Strawinsky machen, wenn man Lust drauf hat.
Der Beginn von Genoveva beispielsweise war von bewunderswerter Musfreiheit. Das kann ich noch 6 Tage nach dem Konzert mit Sicherheit bestätigen.
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Perfektes Konzert übrigens. Ist echt super, wenn die Philharmoniker ihre neugierigen Scheinwerfer auf Dutilleux und Lutoslawski richten. Let’s see, was die Phillies heute Abend zustande bringen.
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