Boccanegra in der Staatsoper. Nachmittags unter der wärmenden Sonne des (noch kalten) Müggelsees, abends unter der wärmenden Sonne Verdis – was will man mehr?
Anja Harteros: Ach, wie sie dasteht. Wie sie sich bewegt. Eine Bühnenstatue wie Nina Hoss. Ein Gemälde wie von Feuerbach. Sie hat das Lächeln in der Stimme, aber nicht immer das Gefühl in der Stimme. „Come in quest’ora bruna“ hat Frau Harteros ganz gut, aber ein bissl belegt gesungen, besser, das heißt sehr gut, ist Harteros dann so gut wie überall sonst. Ihre makellosen Gesangslinien sind ein Ereignis. Sehr charakteristische, klangstarke, fokussierte, perfekt auf dem Atem
gebildete Spitzentöne. Teilweise unidiomatische (so a bissl eine deutsche) Artikulation. Das Callas-Timbre untenrum hat sich etwas abgeschwächt.
Fabio Sartori: Metallisch strahlende Stimme, die subtiler Ausdruckslinien fähig ist. Was will man mehr? OK, er steht rum wie eine Betonmischmaschine. Aber die konzentrierte Emission, ab und an mit geradezu hypnotisch dichter Phrasierung – so was können nur Italiener. Was macht es, dass Sartori rund wie eine Kugel ist? Denkt man an die rein stimmlichen Wunder der Aufführung zurück, fallen mir zuerst Sartori-Phrasen ein: jenes klangmalerisch packende „Perdon, perdon, Amelia“ (2, Akt, eines der besten „con espressione“ der letzten Jahre, herrliches Andante sostenuto) und das Finale des zweiten Akts. Sartori kann auch Differenzierung, elegischen Schmelz, Piano. Strahlkraft der Höhe. Bekommt die meisten Bravos während der Vorstellung.

Kwangchul Youn: In „Il lacerato spirito“ (Prolog), im „Vieni a me, ti benedico“ (Religioso, 1. Akt) und im Duett des letzten Akts mit Domingo ehrfurchtgebietend. Youn integriert seine durchaus unebene, alles andere als kernige Stimme mit untrüglichem Gespür für Timing & Dynamik in die übergeordnete Linie. Schaut beim Applaus vor dem Vorhang grimmig drein, gestattet sich ein kurzes Lächeln, als eine junge Dame aufspringt und in ekstatische Rufe verfällt, als er vor dem Vorhang erscheint. Einer der Größten.
Plácido Domingo: Also, räusper, kratz… Domingo war schlechter als erhofft und besser als befürchtet. In der Premiere 2009 war Domingos Boccanegra ein Ereignis. Heuer schlägt er sich gut, doch man hört dem Seniortenor bei jeder Note an, dass er nicht mehr, sagen wir mal, 22 ist. Die Phrasierung Plácido Domingos ist immer noch glutvoll-üppig, das erotische Timbre, das intensive Deklamieren sind über weite Strecken mit- und hinreißend, ebenso der gebrochene Glanz der Höhepunkte und die Heftigkeit der Ausbrüche, wenn auch der Klangstrom und die Schönheitsschauer, die er hervorruft, dünner bzw. seltener geworden sind. Wenn’s dicke kommt klingt Domingo, als hätte er drei Pfannkuchen auf einmal im Mund.

Kann man die Negativa deshalb verzeihen? Verzeihen, aber nicht überhören. Beispiel „Plebe! Patrizi!“ aus dem Finale des 1. Akts, das Domingo vor 3 Jahren sehr, sehr gut sang: Die sinnlich-klangliche Üppigkeit des Klangs ist minimiert, die Geschlossenheit der Phrasierung reduziert. Der Klang ist hier nicht nur typisch kehlig, sondern durchweg streifig, fast brüchig. Der Beginn der Piano-Phrasen des sterbenden Dogen bereitet Domingo am Samstag wiederholt hörbar Mühe. Klang und Wortformung scheinen bisweilen kaum mehr kontrollierbar. Zu Beginn des Abends drückt er Phrasenenden gewaltsam durch. Domingos Gestik leidet bisweilen an schwer erträglichem Standard-Pathos, anderes rührt unmittelbar. Soweit zur Kritik.
Männliches Raunen, weibliche Schreck-Kiekser gehen durchs Schillertheater, als Domingo äußerst realistisch in ganzer Länge mausetot auf den Boden schlägt. Er kann’s halt.
Hanno Müller-Brachmann: fatalistisch-markant timbriert, die Verdeutlichung des Textes suchend. Ein Vergnügen, man hört die Liedklasse Dietrich Fischer-Dieskau aus jedem Ton. HMB wird weniger in Berlin singen, nach Karlsruhe ziehen, traurig, traurig (Schluri!!!).
Das Beste des Abends: die Szene Adorno – Andrea (1. Akt) aufgrund von Youns keine Wünsche offen lassenden „Vieni a me, ti benedico“ und Sartoris denkwürdigem „Eco pio del tempo antico“.
Verdis Simone Boccanegra treibt die Handlung im Telegrammstil voran. Eine Revolte ist in eineinhalb Minuten komplett durch. Ein Stimmungsumschwung um 180° ist in zwei Takten abgeschlossen. Die Lust, einen totzuschlagen, kommt den Protagonisten quasi innerhalb eines Taktes. Aber was soll’s, trotzdem großartige Musik.
Tiezzis Inszenierung ist nach zweieinhalb Jahren nicht besser geworden. Hauptmerkmal der Personenführung ist immer noch das Rumstehen.
Ein missmutiges Buh nach jedem Akt für Barenboim, das jeweils von Bravos in die Schranken gewiesen wurde. Barenboim begleitet lyrisch intensiv, wunderbar fließend im Klang von Bläsern und Streichern, mit traumwandlerisch sicherer Musikalität. Stellenweise großartige Sensibilität der wunderbar leisen Staatskapelle. Hat Barenboim wegen der neuerlich verschobenen Unter-den-Linden-Eröffnung die Faxen dicke? Er zeigt sich nicht zu Beginn der Akte, obwohl sich die Leute strecken und ihn sehen wollen. Beim Schlussapplaus einige leisere Buhs für Domingo (Montag). Achim Freyer ist da, man kann sich vorstellen, wie er beim Anblick der Inszenierung leidet. Sitzt da nicht eine gut gelaunte Eva-Maria Westbroek, die heute (Sonntag) Punkt 17 Uhr Sieglinde unter Rattle singt und schon am Mittwoch und letzten Sonntag bombenmäßig sang?
Und sonst? Eine Riege goldgeschmückter italienischer Seniorinnen, deren Vorliebe für monströse Fönfrisuren von Anfang der Sechziger datiert, in der Reihe vor mir, Engländer in dunkelblauen Anzügen hinter mir, gebräunte Wienerinnen (eine speziell). Komischerweise höre ich kein Hamburgisch. Aber die Hamburger kommen immer zur emotional unterkühlten Netrebko, der Espressivo-Pathetiker Domingo liegt ihnen scheints nicht.
Kritik/Review: auch aufgrund des Orchesters eine Vorstellung auf höchstem Niveau, trotz etwas nachlassender Meisterlichkeit bei Domingo.
Simon Boccanegra Plácido Domingo
Maria Boccanegra/Amelia Anja Harteros
Jacopo Fiesco Kwangchul Youn
Gabriele Adorno Fabio Sartori
Paolo Albiani Hanno Müller-Brachmann
Pietro Wilhelm Schwinghammer
Hauptmann Paul O’Neill
Dienerin Evelin Novak
Danke für diese schöne und gleichsam unterhaltsame Kritik! Und – ich bin zwar nicht ganz in Hamburg ansässig, aber zumindest operntechnisch fast. Und immerhin war ich dazumal bei der Boccanegra-Premiere vor Ort. :D …. Hab‘ danach aber nie wieder einen längeren und eindeutigeren Buh-Regen für die Regie gesehen – zu Recht wie ich finde…. ;)
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Möglicherweise waren Sie in einer anderen Vorstellung, denn das, was Sie da über Domingo schreiben, hat wohl kaum jemand gesehen. Nicht umsonst haben die Leute getobt nd „Bravo“ gerufen, hat ihr rhythmisches Klatschen ihn wiederholt auf die Bühne geholt. Möglich natürlich auch, dass alle anderen im Publikum dumm sind und Sie als einzige Person die „Wahrheit“ gesehen haben.
Sartori: strahlende Stimme, ja – aber die Schauspielkunst eines toten Baumstammes, ein Ausdruck, der in allen Passagen derselbe ist, ob er nun liebt oder hasst – es ist egal.
Domingo hingegen, der für einen Sänger mit 71 Jahren eine unglaubliche Kraft und Stimme hat, hat die Leute zum Heulen gebracht. Und zwar wegen seines HERVORRAGENDEN Auftritts. In meiner Umgebung haben bei seinem Tod etliche geschnieft und geweint. Diejenigen haben danach auch noch am lautesten „Bravo“ gerufen. Also haben sie wohl kaum aus Enttäuschung, sondern wohl vor Begeisterung geklatscht.
Vielleicht mögen Sie ihn einfach nur nicht … Ihr gutes Recht. Aber diese Besprechung entspricht keinesfalls auch nur annähernd den Tatsachen, nicht im entferntesten.
Schade, denn Leser haben sich immer einen zumindest „versucht objektive“ Beurteilung verdient, nicht eine aus persönlichen Motiven subjektiv gefärbte.
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@G. E.
Meine Sitznachbarin hat auch geschnieft. Ich war auch gerührt. Domingo war gut, keine Frage. Aber wer ihn vor 2,5 Jahren als Simone oder vor 3 Jahren als Parsifal gehört hat, wird nicht umhin gekommen sein, die verminderte Kraft seiner Stimme wahrgenommen zu haben und darüber eine leichte Enttäuschung gespürt zu haben. Die ca. 10 Vorhänge waren meinem Eindruck nach nicht nur seiner Leistung an diesem Abend geschuldet, sondern im gleichen Maß seinem eindrucksvollen Lebenswerk.
Im Übrigen war er am Samstagabend doch etwas schwächer. Ich habe ihn nochmals am Montagabend gehört und hier war er deutlich besser in Form.
Viele Grüße
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@Sarah Maria
Man gewöhnt sich an jede Inszenierung… Sängern kann man fast alles verzeihen, Inszenierungen komischerweise nicht
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Ich muss dem Autor teilweise recht geben. Ich habe die größte Achtung vor Domingo und vor dem, was er in seinem Alter noch kann. Aber es war nicht alles Gold bei Plácido Domingo, was glänzte. Ich war in der Vorstellung gestern (Pfingstmontag). Die Beanspruchung der Stimme war recht deutlich hörbar. Aber es war dennoch eine großartige Aufführung.
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Diese Kritik ist eine Frechheit. Domingo singt ausgezeichnet. Das hat er in der Staatsoper eindrucksvoll unter Beweis gestellt
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Ich war mit 16 Opernfans am Samstag in der Vorstellung in der Sie offensichtlich auch waren. Hätten Sie nicht die gebräunte Wienerin erwähnt, würde ich glatt meinen, dass Sie nicht in der selben Aufführung gewesen sind.
Meine Gäste und auch meine gesamte Umgebung vorn und hinten war begeistert von dieser Aufführung. Es ist doch klar, dass Domingo mit 71 nicht mehr singt wie mit 22 – diese Erwähnung in Ihrer Kritik, finde ich übrigens peinlich und unpassend.
Anja Harteros fand ich ebenfalls grandios und das Gefühl in ihrer Stimme habe ich nicht vermisst. Bei Ihnen allerding vermisst man es sehr wohl.
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Great performance
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Eine ganz großartige Vorstellung vom gesamten Team, Sängern, Musiker, Dirignt! Man kann Placido Domingo natürlich das eine oder andere ankreiden, aber die gestrige Aufführung in der Staatsoper war unvergesslich. Es ist ergreifnd wie Domingo seine Rolle spielt und singt, es ist eine Einheit bei ihm, das machen ihm wenige nach, und auch Harteros, Youn und natürich Fabio Sartori.
Fabio Sartori ließ sich als indisponiert entschuldigen, ich glaube die ganze Staatsoper hat einen Schreck bekommen, als der Vorhang sich öffnete und ein Mann mit Mikrofon an die Rampe trat. Dass Fabio nicht alle Kräfte beisammen hatte, das hat man an einigen Stellen sicherlich gehört. Was den Tenor aber natürlich nicht hinderte, trotzdem eine famose Leistung abzuliefern.
Auch Domingo hatte ein paar schwierige Stellen zu umschiffen, im 1. Akt bspw., er steigerte sich jedoch und war im Finale zum Abbusserln :-). Besonders rührend war die Dankesrede von Barenboim zum 45. Bühnenjubiläum von Domingo in Berlin und das vor versammeltem Orchester, Chor, Flimm, allen Sängern. Mir standen die Tränen in den Augen. Es gab unzählige Vorhänge. Die letzten Vorhänge aber ohne Youn und Barenboim, leider, leider. Barenboim schafft es immer wieder, hervorragende Sänger nach Berlin zu holen.
Anmerkung: Übrigens ließ sich Placido Domingo gestern wieder eindrucksvoll auf den Bühnenboden fallen.
Grüße M.A.
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