Anja Harteros Staatsoper Berlin
Sopranstatue: Anja Harteros // Foto: Monika Rittershaus / staatsoper-berlin.de

Boccanegra in der Staatsoper. Nachmittags unter der wärmenden Sonne des (noch kalten) Müggelsees, abends unter der wärmenden Sonne Verdis – was will man mehr?

Anja Harteros: Ach, wie sie dasteht. Wie sie sich bewegt. Eine Bühnenstatue wie Nina Hoss. Ein Gemälde wie von Feuerbach. Sie hat das Lächeln in der Stimme, aber nicht immer das Gefühl in der Stimme. „Come in quest’ora bruna“ hat Frau Harteros ganz gut, aber ein bissl belegt gesungen, besser, das heißt sehr gut, ist Harteros dann so gut wie überall sonst. Ihre makellosen Gesangslinien sind ein Ereignis. Sehr charakteristische, klangstarke, fokussierte, perfekt auf dem Atem

gebildete Spitzentöne. Teilweise unidiomatische (so a bissl eine deutsche) Artikulation. Das Callas-Timbre untenrum hat sich etwas abgeschwächt.

Fabio Sartori: Metallisch strahlende Stimme, die subtiler Ausdruckslinien fähig ist. Was will man mehr? OK, er steht rum wie eine Betonmischmaschine. Aber die konzentrierte Emission, ab und an mit geradezu hypnotisch dichter Phrasierung – so was können nur Italiener. Was macht es, dass Sartori rund wie eine Kugel ist? Denkt man an die rein stimmlichen Wunder der Aufführung zurück, fallen mir zuerst Sartori-Phrasen ein: jenes klangmalerisch packende „Perdon, perdon, Amelia“ (2, Akt, eines der besten „con espressione“ der letzten Jahre, herrliches Andante sostenuto) und das Finale des zweiten Akts. Sartori kann auch Differenzierung, elegischen Schmelz, Piano. Strahlkraft der Höhe. Bekommt die meisten Bravos während der Vorstellung.

Kwangchul Youn Simon Boccanegra Berlin
Pssst!, der Meister singt: Kwangchul Youn vor Anja Harteros udn Fabio Sartori // Foto: Monika Rittershaus / staatsoper-berlin.de

Kwangchul Youn: In „Il lacerato spirito“ (Prolog), im „Vieni a me, ti benedico“ (Religioso, 1. Akt) und im Duett des letzten Akts mit Domingo ehrfurchtgebietend. Youn integriert seine durchaus unebene, alles andere als kernige Stimme mit untrüglichem Gespür für Timing & Dynamik in die übergeordnete Linie. Schaut beim Applaus vor dem Vorhang grimmig drein, gestattet sich ein kurzes Lächeln, als eine junge Dame aufspringt und in ekstatische Rufe verfällt, als er vor dem Vorhang erscheint. Einer der Größten.

Plácido Domingo: Also, räusper, kratz… Domingo war schlechter als erhofft und besser als befürchtet. In der Premiere 2009 war Domingos Boccanegra ein Ereignis. Heuer schlägt er sich gut, doch man hört dem Seniortenor bei jeder Note an, dass er nicht mehr, sagen wir mal, 22 ist. Die Phrasierung Plácido Domingos ist immer noch glutvoll-üppig, das erotische Timbre, das intensive Deklamieren sind über weite Strecken mit- und hinreißend, ebenso der gebrochene Glanz der Höhepunkte und die Heftigkeit der Ausbrüche, wenn auch der Klangstrom und die Schönheitsschauer, die er hervorruft, dünner bzw. seltener geworden sind. Wenn’s dicke kommt klingt Domingo, als hätte er drei Pfannkuchen auf einmal im Mund.

Plácido Domingo, Anja Harteros Simon Boccanegra Berlin Staatsoper Unter den Linden Verdi
Er steht, sie kniet: Plácido Domingo, Anja Harteros // Foto: Monika Rittershaus / staatsoper-berlin.de

Kann man die Negativa deshalb verzeihen? Verzeihen, aber nicht überhören. Beispiel „Plebe! Patrizi!“ aus dem Finale des 1. Akts, das Domingo vor 3 Jahren sehr, sehr gut sang: Die sinnlich-klangliche Üppigkeit des Klangs ist minimiert, die Geschlossenheit der Phrasierung reduziert. Der Klang ist hier nicht nur typisch kehlig, sondern durchweg streifig, fast brüchig. Der Beginn der Piano-Phrasen des sterbenden Dogen bereitet Domingo am Samstag wiederholt hörbar Mühe. Klang und Wortformung scheinen bisweilen kaum mehr kontrollierbar. Zu Beginn des Abends drückt er Phrasenenden gewaltsam durch. Domingos Gestik leidet bisweilen an schwer erträglichem Standard-Pathos, anderes rührt unmittelbar. Soweit zur Kritik.

Männliches Raunen, weibliche Schreck-Kiekser gehen durchs Schillertheater, als Domingo äußerst realistisch in ganzer Länge mausetot auf den Boden schlägt. Er kann’s halt.

Hanno Müller-Brachmann: fatalistisch-markant timbriert, die Verdeutlichung des Textes suchend. Ein Vergnügen, man hört die Liedklasse Dietrich Fischer-Dieskau aus jedem Ton. HMB wird weniger in Berlin singen, nach Karlsruhe ziehen, traurig, traurig (Schluri!!!).

Das Beste des Abends: die Szene Adorno – Andrea (1. Akt) aufgrund von Youns keine Wünsche offen lassenden „Vieni a me, ti benedico“ und Sartoris denkwürdigem „Eco pio del tempo antico“.

Verdis Simone Boccanegra treibt die Handlung im Telegrammstil voran. Eine Revolte ist in eineinhalb Minuten komplett durch. Ein Stimmungsumschwung um 180° ist in zwei Takten abgeschlossen. Die Lust, einen totzuschlagen, kommt den Protagonisten quasi innerhalb eines Taktes. Aber was soll’s, trotzdem großartige Musik.

Tiezzis Inszenierung ist nach zweieinhalb Jahren nicht besser geworden. Hauptmerkmal der Personenführung ist immer noch das Rumstehen.

Ein missmutiges Buh nach jedem Akt für Barenboim, das jeweils von Bravos in die Schranken gewiesen wurde. Barenboim begleitet lyrisch intensiv, wunderbar fließend im Klang von Bläsern und Streichern, mit traumwandlerisch sicherer Musikalität. Stellenweise großartige Sensibilität der wunderbar leisen Staatskapelle. Hat Barenboim wegen der neuerlich verschobenen Unter-den-Linden-Eröffnung die Faxen dicke? Er zeigt sich nicht zu Beginn der Akte, obwohl sich die Leute strecken und ihn sehen wollen. Beim Schlussapplaus einige leisere Buhs für Domingo (Montag). Achim Freyer ist da, man kann sich vorstellen, wie er beim Anblick der Inszenierung leidet. Sitzt da nicht eine gut gelaunte Eva-Maria Westbroek, die heute (Sonntag) Punkt 17 Uhr Sieglinde unter Rattle singt und schon am Mittwoch und letzten Sonntag bombenmäßig sang?

Und sonst? Eine Riege goldgeschmückter italienischer Seniorinnen, deren Vorliebe für monströse Fönfrisuren von Anfang der Sechziger datiert, in der Reihe vor mir, Engländer in dunkelblauen Anzügen hinter mir, gebräunte Wienerinnen (eine speziell). Komischerweise höre ich kein Hamburgisch. Aber die Hamburger kommen immer zur emotional unterkühlten Netrebko, der Espressivo-Pathetiker Domingo liegt ihnen scheints nicht.

Kritik/Review: auch aufgrund des Orchesters eine Vorstellung auf höchstem Niveau, trotz etwas nachlassender Meisterlichkeit bei Domingo.

Simon Boccanegra Plácido Domingo
Maria Boccanegra/Amelia Anja Harteros
Jacopo Fiesco Kwangchul Youn
Gabriele Adorno Fabio Sartori
Paolo Albiani Hanno Müller-Brachmann
Pietro Wilhelm Schwinghammer
Hauptmann Paul O’Neill
Dienerin Evelin Novak