Heute abend als Absacker nach zwei anstrengenden (kleine Übertreibung am Rande) Wochen mit Rattle-Walküren und Domingo-Boccanegras: Missa Solemnis.
Ich gehe nicht gern in die unsinnliche Missa Solemnis. Wenn ich gehe, dann unter dem Motto „Muss es sein? Es muss sein!“. Heute musste es sein. Wehmütig denke ich an den Herbst zurück: Im Vergleich zur Missa Solemnis war die von Harnoncourt dirigierte C-Dur-Messe ein flotter Feger. Wahrscheinlich geht man in die Missa Solemnis, um Abbitte zu leisten für Vergnügen an Strauss, Chabrier, Puccini (seufz).
Herbert Blomstedt. Er entlässt Beethoven in die Schwebe. Die Bläser dürfen sich im kostbaren Relief abheben. Die Philharmoniker: ein kleines bisschen Groove, ein gezügelter rhythmischer Puls, ab und an mit einer feinen Note Beschwipstheit (aber sehr selten). Was Blomstedt macht, erinnert mich an den geräumigen Keller meiner Tante. Sauber aufgereihte Marmeladengläser auf Regalen, dazu leichter Dämmer, Geruch von Äpfeln: Rationalität und ein Hauch Lyrik. Blomstedt stellt Einfachheit her. Man spürt: Der Mann hält auf Ordnung, und das mit viel Liebe zum Gegenstand. Proportionen OK. Lebhaftigkeit OK. Blomstedt dirigiert, als würde er denken: Für Remmidemmi gibts ja den Rattle.
Das Hauptmanko ist die Übersichtlichkeit. Die ist bei Beethoven meist fehl am Platz, besonders wenn sie auf Dauer fühlbar wird. Für Blomstedts Beethoven macht man keine depperten Sachen. Man reist nicht von Paris an. Man brüskiert keine Angehörige durch kurzfristige Absagen von Familienfeiern. Man besorgt sich nicht zwölf Stunden vor Beginn eine katastrophal teure Karte, die die ganze Rentenplanung durcheinander bringt.
Ich höre konzentriert zu, halb mit Beethoven, halb mit Blomstedt beschäftigt. Zwischendurch vibratolose Bratschen. Braunsteins Solo aber mit bekennerischem Vibrato (hätte mich auch gewundert…)
Blomstedt dirigiert, als hätte Beethoven, als er die Missa Solemnis komponierte, aufgehört, von Gräfinnen und ähnlichen Lebewesen zu träumen (wenn man Rattles Neunte hört, ahnt man, dass Beethoven nach Fertigstellung der Missa Solemnis sofort wieder anfing, von Gräfinnen zu träumen).
Ruht Ziesak hörte ich vor etlichen Jahren als wunderbare Pamina, wahrscheinlich in Stuttgart. Muss ungefähr zu der Zeit gewesen sein, als ich noch dachte, die Eroica wäre eine erotische Sinfonie, und zwar nicht nur, wenn Bernstein sie dirigiert, sondern überhaupt, also auch wenn Böhm sie dirigiert. Schönes Leuchten der schmalen Höhe bei Ziesak, etliche hübsche und zudem sehr ausgesetzte Sopranspitzen, bei genauem Hören sehr eigentümliches Timbre. Pathos der delikaten Einfachheit. Soweit zu Ruth Ziesak. Richard Crofts Tenor: eindrucksvolle Neutralität. Gerhild Rombergers Alt: klangvolle Zucht. Georg Zeppenfelds Bass: eindringliche Sachlichkeit. Der Chor des Bayerischen Rundfunks singt gut, wenn auch weniger klar als der hiesige Rundfunkchor.
Philharmoniker: Streicher 14, 14, 10, 8, 7. Celli und Bratschen Mitte links bzw. Mitte rechts. Bässe hinten links.
Braunstein war der Einzige der das pp ernst genommen hat. Der Rest der Philharmoniker tutet bei pp wie immer mindestens ein solides mezzoforte. Und der alte Herr lächelt und greift nicht durch. Bei Braunsteins Solo kurze Hoffnung das Benedictus erstmals in der Musikgeschichte im demutsvollen (und von Beethoven intendierten) mezza voce zu hören, aber die Solisten haben zuverlässig wieder im äffischen Konkurrenzkampf das Brüllen begonnen. Aber man hat es auch schon noch schlimmer gehört.
LikeLike