Über die Berliner Eötvös-Uraufführung lässt sich Gutes berichten – aber nicht nur.

Die Grundstimmung von Sleepless ist trostlos. Dennoch, am Ende siegt die Hoffnung. Das ist das Fazit, das man nach zweieinhalb Stunden in der Linden-Oper ziehen kann. Das Libretto besorgte Mari Mezei nach Jon Fosse. Die Geschichte vom verzweifelten Paar auf der Suche nach Unterkunft und Rettung aus nicht endender Misere vermischmascht dabei die Erzählung von Betlehem mit Puccinis Manon Lescaut und Schostakowitschs Lady Macbeth.

Was passiert in den zwei Akten?

Die schwangere Alida und ihr Liebster Asle werden von Alidas Mutter rausgeschmissen, landen in schummrigen Bars, die voll ungehobelter Fischer stecken. Das ganze spielt im norwegischen Bjørgvin (Bergen hieß offenbar im frühen Mittelalter so). Zwei Teenager auf der Flucht. Asle (der sehnig-magere, wie innerlich aufgezehrt wirkende Linard Vrielink gestaltet die hochliegende Partie erfreulich timbre-sicher) tötet dabei am laufenden Band Menschen. Weswegen er wenig später am Galgen baumelt.

Als daraufhin Alida mit dem Neugeborenen auf der Straße landet, rettet Asleik (der hoch aufragende Arttu Kataja prächtig baritonklar) die junge Mutter. Ich reibe mir verwundert die Augen. Ist Sleepless etwa ein rührendes Sozialstück?

Tatsächlich schwankt der Plot zwischen feinschraffiertem Realismus und schlichter Moritat. Nicht umsonst nennt Eötvös Sleepless eine opera ballad. Ebenso fantastisch-vieldeutig gibt sich die Inszenierung von Kornél Mundruczó. Die norwegischen Fischer stecken – wenig überraschend – in Signaljacke und Ölzeug. Natürlich torkeln sie dekorativ über die Bühne. Und – o santa miseria! – auch Alidas Mutter hängt volltrunken über der Couch (auch als Hebamme sehr präsent: Katharina Kammerloher). Da fällt Kritik leicht. Sleepless pendelt irgendwo zwischen pingeliger Sozialstudie und schonungslosem BILD-Report („Erschreckend: So abgefuckt lebt es sich in der norwegischen Provinz“).

Fotos: Gianmarco Bresadola / staatsoper-berlin.de

Aber da ist ja noch das Bühnenbild.

Das stellt einen riesigen Lachs dar, und je nach Drehbühnenstellung zeigt er seine schuppig silbrige Vorderseite oder das grätig ausgeweidete Innere, in das Monika Pormale (Bühne) fantasiestark die Innenräume – Kneipe, Bar, Wohnung (grell ausgeleuchtet: Felice Ross) – unterbringt. Wobei – leise Kritik – die Regie wieder offenlässt, wie die lustvoll raumgreifende, aber eben auch surreale Fischskulptur mit dem Realismus der Innenräume zusammenpasst.

Heutig die Kostüme: Das unglückliche Paar kleidet sich in Schlabberfreizeitlook (Monika Pormale). Aber wie passt dazu die für das heutige Norwegen wohl eher unübliche Hängung des Delinquenten? Stringentes Drama entsteht so nicht. Eher ein gefühliges Sozialstück mit Fantasy-Touch.

Am meisten stört mich an dem Abend, dass die Hauptfiguren flache Abziehbilder bleiben. Was für eine Frau diese immermüde, engelsgleich ihr Schicksal erleidende Alida (spiel- und klangstark, Gefühl in der Stimme: Victoria Randem) sein soll, erfährt in Berlin niemand. Ihr Liebster, der nichts auf die Reihe kriegt, ist ein kaltblütiger Mörder. Wie viel Bühnenpersonal er am Ende genau aufschlitzt, darüber verliere ich im Lauf des Abends den Überblick.

Aber womöglich erweist sich die Oper ja doch als lebens- und repertoirefähig, so vokalsanft verpackt sie Peter Eötvös in spirituelle Wohlfühlwolle. Besonders himmlisch singt dieses Vokaltrio aus Alexandra Ionis, Rowan Hellier und wer war das noch in der linken Proszeniumsloge?

Musikalisch leichter wiegt der erste Akt, dessen feines Gewebe (weiche Haltetöne, illustrierende Schlenker der Musikersolisten) keine dramaturgische Kraft entwickelt. Perspektivreich tönt Eötvös‘ Musik in Akt zwei. Sehr gut die übrigen Gesangssolisten. Herrisch und autoritativ Hanna Schwarz als alte Frau. Koloraturspitz Sarah Defrise als boshaft verlogene Prostituierte. Bärig mit ausreichend Bass-Tiefgang der Gastwirt von Jan Martiník. Gesanglich und darstellerisch ein Dreh- und Angelpunkt: Tómas Tómasson als Mann in Schwarz. Punkten können auch Roman Trekel als hagerer Bootsmann und als Juwelier mit Chuzpe Siyabonga Maqungo. Es dirigiert der Komponist. Die Staatskapelle brilliert.

Der Jubel des Publikums ist so laut wie einhellig. Kein Buh. Viel Beifall, zum Schluss sogar Standing Ovations für Sänger, den Dirigenten Eötvös und das Inszenierungsteam um Kornél Mundruczó. Alles andere als ausverkauft übrigens die Berliner Staatsoper.


Weitere „Sleepless“-Premieren-Kritiken: „Karge Strenge“ (Hundert11), „Zarte Musik für eine harte Welt“ (Jan Brachmann), „Sensationell als Einheitsbühnenbild“ (Kritik von André Skokolowski), „Viel fürs Auge geboten“ (Volker Blech, Morgenpost-Kritik), „Der Lachs hat es in sich“ (Christiane Peitz, Tagesspiegel-Bericht), „Der Fisch bleibt haften“ (Harald Asel)