Kommen die Konzertorchester besser durch die Krise? In der nicht endenwollenden Lockdown-Misere wirken sie agiler als die Opern mit ihren Hunderten von Mitarbeitern. Auch wenn die Staatsoper gerade den Lohengrin gestemmt hat und die Komische Oper ein kleines, feines Weihnachts-Stream-Festival auflegt.

Umtriebiger sind dennoch die Orchester. Das DSO startet dieser Tage sein Konzertfilm-Projekt. Das RSB kredenzt am 23. sein Weihnachtskonzert mit Bach, Bartholdy, Williams. Am preußischsten machen es mal wieder die Philharmoniker. Die machen eisern Corona-Dienst nach Vorschrift. Immer samstags, 19 Uhr, öffnet die hauseigene Concert Hall fürs Bezahlpublikum. Glücklich ist, wem die Deutsche Bank so was sponsort. Das 24-Stunden-Ticket kostet 9,90, das 30-Tage-Ticket 19,90. Eines gilt aber für alle Konzerte: Die Programme werden munter immer wieder neu zusammengestellt. Es lebe die Spontaneität jenseits des Zwangs von Abonnement oder Vorverkauf.

Mal ganz ehrlich, die guten, alten Konzerte mit Vollpublikum wird es vor Herbst, wenn überhaupt, nicht geben. Schon eher kommt das Konzert für Geimpfte und Antikörperträger.

Samstag, 12. 12., 19:00, Philharmonie. Die Berliner spielen Strawinskys Violinkonzert. Das schnurrt zwar beflissen sein neoklassizistisches Pensum ab, aber Strawinsky wäre nicht Strawinsky, wenn er nicht für viel Aufregung sorgen würde. Zuletzt gespielt hat man das Konzert 2008 mit Dudamel/Mullova, aufgenommen offenbar nur einmal, mit Ančerl/Schneiderhahn. Nach Amour fou hört sich das nicht gerade an. Doch dirigiert Andris Nelsons toccata-lässig, mit jener Unbekümmertheit, die immer noch sein Markenzeichen ist. Das tönt anfangs sogar ziemlich mainstreamig, swingt diskret, klingt herzhaft. Geigerin Baiba Skride (bodenlanges, rotes Kleid) bringt vieles unter einen Hut: das Schräge, das Empfindsame, das Virtuose. Hahn spielt das Konzert bedingungsloser, Kopatschinskaja übertriebener, der leicht überschätzte Capuçon grauer, Mutter langweiliger (wenn sie es denn überhaupt spielt). Uneingeschränkte Lufthoheit liegt Skride nicht. Ihr Ton verströmt Diskretion. Statt Motorik entdeckt Skride eine Art intimes Parlando. Ich habe Skride lange nicht gehört und bin entzückt. Nelsons macht sich erst allmählich locker, lässt dann aber umso mehr Farben und Witz sprühen. Als Konzert im Konzert dienen ein ums andere Mal die alles andere als fußfaulen Soli der Instrumentalsolisten, besonders von Fagott und Horn (Cappriccio). Das Werk wurde 1931 im Rundfunkhaus uraufgeführt, vom heutigen RSB. Mahlers 1. Sinfonie ist die Art Musik, die via PC-Soundkarte zu viel verliert, da zu lang, zu klangmächtig. Also nicht reingehört. Nelsons befindet sich im Übergang vom Bäuchlein zum Bauch.

Samstag, 19. 12., 19:00, Philharmonie Berlin. Genau eine Woche später steht der Lette ein weiteres Mal vor den Philharmonikern und springt für Iván Fischer ein. Liszts 2. Klavierkonzert spielt der junge Südkoreaner Seong-Jin Cho. Liszts Arbeitstitel Concerto symphonique deutet das auch heute noch frappierend Unorthodoxe des Werks an. Cho spielt seinen Einsatz unbeschreiblich klar und schön (armonioso-Nonolen). Sein Anschlag ist makellos, der Klavierton hypergenau, die Technik glanzvoll, vollkommen gleichmäßig durchgebildet. Sein Vortrag sagt aber (noch) zu wenig. Alles Seelische klingt unerfüllt. Es fehlt was Eckiges, Herbes. Die abenteuerliche Traumwelt Liszts mit ihrer Poesie hat Cho noch kaum betreten. Dennoch ist es schön, eben dieses Konzert mit dem hochbegabten Cho hören zu können.

Die 5. Sinfonie von Beethovn. Hochgelobt wurde Nelsons‘ Fünfte zu Saisonbeginn mit dem Gewandhaus. Heute in Berlin bleibe ich zuerst reserviert. Nelsons lässt nichts anbrennen, stößt aber auch keine neuen Türen auf. Man ist langsamer als Rattle. Im Andante klingen die Tutti-Blöcke des Marschthemas nach gefährlich wenig. Vergnüglicher läufts im nicht auf Klangfarbenwerte verzichtenden Scherzo (Allegro), und im Finale, wo man gerade die Musik jenseits des Jubels hört: die Feinarbeit der Streicher, das charakteristische Eigenleben der Holzbläser, die virtuose Griffigkeit des Blechs. Jetzt sind Leichtigkeit im Tutti, Lockerheit in den Crescendi, bis zu jenem letzten, das in die Presto-Stretta mündet. Nelsons und die Berliner wollen ihren Beethoven nicht allzu schicksalssinfonisch verstanden wissen. Man muss hinhören, aber da ist dann doch eine sehr interessante interpretatorische Note vernehmbar. Kelly Oboe (schön in der berühmten Reprisenstelle), Fuchs Klarinette, Pahud Flöte. Die drei verrichten gerade im Andante Maßarbeit.

Welche Erfahrungen sammelt man nach zwei Monaten Corona-Streaming? Mahler, Bruckner, Brahms interessieren mich zur Zeit weniger. Haydn, Mozart, Beethoven, Saint-Säens gehen. Alpensinfonie nein, Metamorphosen ja. Wagnertuben und einstündige Sinfonien nein. Lieber Iberts fröhliches Flötenkonzert oder Bizets jugendleichte C-Dur-Sinfonie, wie jüngst von den Berlinern gespielt. Aber das sind nur persönliche Eindrücke.

Das RSB-Konzert unter Cambreling zieht mit Bruckner 4. und Schubert 8. das ganz große romantische Besteck aus der Schublade. Also derzeit auch nicht interessant.

Foto: KNM Contemporaries

Ganz anders gestrickt ist die Konzertreihe KNM Contemporaries, die den Untertitel Music in the Making 2020 trägt. Hier wird an drei Abenden aus einem Lichtenberger Gewerbehof gestreamt, dazu holt man Komponisten und Interpreten live aufs Sofa oder spielt sie per Stream zu. Es spielen Solisten des Berliner KNM Ensembles. Die Kommentare der Interpreten sind oft interessanter als die Komponistengespräche, und Vorspulen zwischen den Titeln erleichtert (und verkürzt) die Sache ungemein. Der chilenische Komponist Francisco C. Goldschmidt ist mit …y tal vez habré gritado… vertreten (Violine Theodor Flindell), die Chilenin Macarena Rosmanich mit Zeichen (UA, Bassklarinette Theo Nabicht), Martin Schüttler mit dem Flötenstück Girl You Know It’s True aus der schöner leben-Reihe, gespielt von Rebecca Lenton, inklusive flackernder Neonröhre. Eine Entdeckung ist für mich die US-Amerikanerin Catherine Lamb. Mirror klingt intensiv (Jonathan Heilbron, Kontrabass). Mit im KNM-Boot sind auch Anda Kryeziu (träumerisch frickelig: T für Kontrabassklarinette und Band), Füsun Köksal (das verhalten agile voce immobile), Anaïs-Nour Benlachhab (Éveil für Marimba), der Finne Matti Heininen (mit der minimalistischen study on apparitions V: poison für Bratsche solo), der Südkoreaner Hunjoo Jung (das lustvoll vitale refLEction refRAction difFRAction für Bassklarinette) und Emre Dündar (La Llorona für Flöte solo, zwischen hektischen und introvertierten Passagen wechselnd). Verfügbar als Videos auf Vimeo: hier, hier und hier.

Foto: DSO Livestream

Freitag und Samstag, 18./19. 12., 20 Uhr, Friedrichwerdersche Kirche bzw. Konzertfilm. Kurz vor Weihnachten stößt das DSO sein Konzertfilm-Festival an. Am Freitag spielt man Gabrielis Canzon in echo duodecimi toni à 10 und Strawinskys Apollon, am Samstag Mozarts KV551, alles unter der Leitung von Robert Ticciati (schlank und rank in Pulli und weißer Hose, die Musiker tragen Wollpullis). Aufgenommen und aufgezeichnet wurde in der Friedrichwerderschen Kirche inmitten des nobel klassizistischen Statuenreigens, sozusagen direkt unter den Augen von Königin Luise und Heros Achill – frei nach dem Motto der Filmreihe „Von Göttern und Menschen“.

Ein bisschen geschummelt wird natürlich, denn alle drei Werke wurden schon im Radiokonzert am 23. 11. gesendet. Noch nicht zu hören waren aber Stücke von Benjamin Britten und Ondřej Adámek. Adámeks vergnügliches Coups d’ailes für acht Blechbläser zeigt sich von der Nike von Samothrake (im Louvre) inspiriert, klingt aber wie ein wild gewordener Hühnerhaufen. In Szene gesetzt wird das ziemlich witzig in echtem Berliner Wald (Film Frederic Wake-Walker). Und Brittens elegische Metamorphosen blasen die Oboisten Viola Wilmsen und Thomas Hecker vor melancholischer Berliner Seelandschaft. Schön anzuschauen und anzuhören ist das. So macht das Lust auf mehr. Nachhören kann man alles im DSO-Player, der nagelneuen Mediathek des DSO. Der Mozart von Ticciati + DSO ist einer der besten, den es gegenwärtig zu hören gibt.

Und zum Schluss der beste Adventskalender der Opernrepublik. Türchen Nr. 17. Venera Gimadieva an der Deutschen Oper Berlin mit Ah! non creadea mirarti aus Sonnambula.

Fotos: Berliner Philharmoniker / Digital Concert Hall, Livestream Ensemble KNM Berlin, Livestream DSO-Player, Deutsche Oper